Dienstag, September 04, 2007

Öl im Schauspielhaus

Estnisches Theater zu Gast in Deutschland - ein seltenes Erlebnis! Im Rahmen der Reihe "Projektion Europa" bestand ganze zwei Abende die Möglichkeit, das Stück "NAFTA!" des jungen estnischen Theater NO99 aus Tallinn in Hamburg zu erleben - in einer deutschen Erstaufführung, und in aller Einzigartigkeit.

Ich weiß nicht, was deutsche Theaterkritiker gedacht haben - Estland-Freund/innen waren vereinzelt anzutreffen, aber im wesentlichen wird das
Hamburger Publikum von dem Stichwort "estnisches Theater" wohl eher überrascht worden sein. "Wir sind hier zu diesem Projekt eingeladen worden - beworben haben wir uns nicht", erzählt Tiit Ojasoo, Regisseur von "Nafta!", im Gespräch. Besonders das junge Publikum in Tallinn sei begeistert von dem Stück, so erzählt er, während die estnische Theaterkritik zurückhaltend reagiere.

Und wie wird so ein Stück für Deutsche verständlich? Gut, ein Stück Vorwissen kann schon nicht schaden. Über Estlands Ölschieferförderung zum Beispiel ("Nafta" = Oil = Öl), über die estnischen Neureichen und das so gegensätzliche lauschige Landleben, über Skandale in der Wirtschaft und die vergänglichen Sprüche in der Politik.
Aber glücklicherweise gibt es auch (inzwischen?) Ähnliches zwischen Estland und Westeuropa: die Internet- und Multimedia-Begeisterung der Esten ist ja fast schon Allgemeingut. So filmen also die Schauspieler/innen (
Mirtel Pohla, Jaak Prints, Gert Raudsep, Kristjan Sarv, Tambet Tuisk) sich selbst während ihres Spiels, ob nun eingesperrt in einer Kiste, oder indem sie einfach rausrennen auf die belebten Hamburger Straßen und dort für ein paar Minuten den Augen des Publikums entschwinden.

Das Theaterstück kommt über die Zuschauer, wie der gesellschaftliche Wechsel über Estland kam: mal schrill, laut, die Botschaften der Konsumwelt ausrufend, mal leise, wie ins Selbstgespräch versunken. Selbstgespräche, die allerdings (nämlich öffentlich laut lamentierend) wohl kein Este im wahren Leben so praktizieren würde. Also: Laut ausgesprochen, was Esten denken?
Aber nicht nur das: während die übersetzten Textzeilen über das an beiden Seiten der Bühne sitzende Publikum hinwegflimmern, rasante Rollenwechel der Akteure inklusive, führen die Schauspieler auch Szenen aus dem inzwischen gemeinsamen virtuellen Europa vor. Auch das Publikum wird einbezogen, und hier wechselt die Kommunikation ins Englische: "Sind Sie Deutscher? Haben Sie einen Kredit?" Die Angesprochenen ahnen, dass Leben in Estland vieles nur auf Kredit bekommen bedeuten könnte.
Und standardisierte Fernsehshows gibt es auch in Estland inzwischen zur Genüge, vom "Superstar", der angeblich gesucht wird, bis zu den bekannten Quizsendungen. "Makaber" nennt die bisher wohl einzige verfügbare Online-Theaterkritik bei "Nachtkritik" dieses Stilmittel. Aber makaber kann wohl auch die estnische (Fernseh-)wirklichkeit wirken, angesichts den wirklichen Problemen des Lebens ...

"NAFTA ist nicht unser neuestes Stück," erzählt Tiit Ojasoo. "Es ist schon anderthalb Jahre alt, und das ist in Estland eine lange Zeit. Jetzt führen wir gerade ein Stück mit dem Titel 'heisse estnische Jungs" auf (Titel: "ГЭП"), und hier thematisieren wir den Bevölkerungsrückgang, der für unser kleines Land existenzbedrohend wirkt." Ojasoo bejaht natürlich die Frage, ob im Falle weiterer Anfragen auch dieses Stück in Deutschland aufgeführt werden könnte: "Na klar!".


Und übrigens: ein Wort haben auch die deutschen Zuschauer von dieser estnischen Aufführung behalten. "JUHUIA" - "das ruft die Stewadess beim Flugzeugabsturz", so NO99. Erzwungenes Wohlbefinden, Fröhlichkeitsoffensive derer, die meinen, alles gehe schon so weiter wie bisher. konsumorientiert und sorgenfrei. Wenn NO99 für das junge Estland spricht - dann besteht vielleícht dennoch noch Hoffnung.

(Foto: Tiit Ojasoo und Eero Epner in Hamburg)

Mehr Info zum Thema:

Infoseite NO99 zu "NAFTA!"

Info der Kulturstiftung des Bundes zu "Projektion Europa"

Infoseite Schauspielhaus Hamburg

Info Andrea Tietz Theaterproduktionen

"Nachtkritik" zum Stück "Nafta!"

Eero Epner im POSTIMEES-Interview (zur Aufführung in Hamburg) - estnisch

2 Kommentare:

  1. The response in Estonia has been contradicting. People either strongly like it or strongly dislike. I am unable to express either of the two because I have not seen the play. No tickets available when I would have had the chance.

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  2. sorry, ist gerade nicht zum thema, es gibt Nachwehen zu den Bronzenen Nächten in April. Schaut bitte auf meinem Blog.

    Gruss,

    kloty

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