Eine Agenturmeldung macht die Runde - wieder wird Estland kritisiert. Die Quote der Staatenlosen in Estland, die jährlich die estnische Staatsbürgerschaft erhält, sei zu gering. Die letzten der noch über 100 000 Staatenlosen würden bei der jetzigen Anzahl erst in 20 Jahren eingebürgert.
Der Vorwurf stammt von Rene Van der Linden:
"We cannot accept in Europe, in so many countries, member states with so many stateless people," the president of the Council of Europe's Parliamentary Assembly, Rene Van der Linden, told a news conference.
He said Estonia's programme of granting citizenship meant between 5,000 and 7,000 new citizens were created each year.
"I expressed my concerns on this situation and I hope sincerely that the government will push this forward because if you have 100,000 or more stateless persons and it takes 5,000 a year, that means it takes 20 years," he added.
Bei den Vorwürfen wird häufig der Begriff Russen benutzt. Aber passen die Staatenlosen in Estland in eine Kategorie?
Sergej Magaj passt jedenfalls nicht in ein vorgefertigtes Schema. Der neueste Stand 2007: Er strebt nicht mehr die estnische Staatsbürgerschaft an, ein Sohn von ihm hat in den USA Fuß gefasst. Magajs Restaurant in Tallinn bleibt sein Lebensmittelpunkt. Er hatte vor kurzem einen Schlaganfall erlitten und musste deshalb Geschäftsideen in Rußland, vor allem in Moskau, aufgeben. Er steht den Auseinandersetzungen um den Bronzenen Soldaten so fern, dass er meinte, die Esten hätten die Randale in Tallinn verursacht im vergangenen April. Auch er hatte Angst um sein Geschäft, dass es geplündert oder zerstört werden könnte. 1994 habe ich ihn das erste Mal getroffen. Grundsätzlich hat sich nicht viel geändert in dem Restaurant Ariran in Tallinn, nur die Fotos sind aktuell.
Sergej Magaj
Juni 1994,
InfoBlatt Baltische Staaten 2/94Als Koreaner in Estland
Das Restaurant Ariran des Sergej Magaj in Tallinn
Esten und Russen sind die beiden stärksten Bevölkerungsgruppen der Hauptstadt Estlands. Unter ihnen leben aber auch Zuwanderer und Nachkommen anderer Völker und Nationen, wie z.B. die kleine Gemeinde der Koreaner, die kaum mehr als 200 Personen umfaßt. Haupttreffpunkt der Koreaner in Tallinn ist das Restaurant Ariran, unter dessen Dach sich auch das estnisch-koreanische Kulturzentrum befindet.
Das Ariran gehört zu den ethnischen Restaurants, die in den letzten Jahren mit der beginnenden Privatisierungswelle eröffnet wurden. Bekannt unter ihnen sind vor allem das Maharaja (Indisch) und das Ai Sha Ni Ya (Chinesisch).
Ariran ist koreanisch und gleichzeitig der Titel eines bedeutenden Volksliedes der Halbinsel zwischen China und Japan. Im weitesten Sinn ist Ariran Ausdruck für Freude und Not der einfachen Menschen Koreas, das bis vor wenigen Jahrzehnten überwiegend von Kleinbauern bewohnt war. Gesang hat für die Koreaner einen ähnlich hohen Stellenwert wie für die baltischen Nationen.
Das Lied entwickelte sich während der letzten großen Dynastie zu einem Symbol der koreanischen Identität, das in unzähligen Variationen gesungen werden kann. Das jahrhundertelange Regierungssystem der Yi-Dynastie wurde erst vor dem Ersten Weltkrieg ausgelöscht.
Der Inhaber des Ariran, Sergej Magaj, trägt einen russischen Namen. Aber eigentlich hieß sein Vater Ma. Das ist ein Name mit chinesischer Herkunft, der auch in Korea verbreitet ist. Der Vater stammte aus der Hafenstadt Pusan und wurde im Laufe des zweiten Weltkriegs in die japanische Armee zwangsrekrutiert. Das Kriegsgeschehen verschlug ihn auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
Später lebte er in der Sowjetrepublik Usbekistan, wohin zehntausende
seiner Landsleute aus den chinesisch-russischen Grenzgebieten deportiert worden waren. Es war die Zeit der großen Umsiedlungen, die der Despot Stalin in den vierziger Jahren angeordnet hatte.
Der Vater heiratete eine Russin. Er verlor seinen ursprünglichen Familiennamen. Von jetzt an hieß er nicht mehr Ma sondern Magaj. Bis auf die Familien Kim wurden die meisten Koreaner umbenannt.
Ein Teil der Koreaner ging anschließend ganz in der Gesellschaft der russischen Bevölkerung auf. Andere wiederum versuchten alte Traditionen und die Muttersprache mit der dazugehörigen Schrift am Leben zu erhalten. Ein schweres Unterfangen, da ein entsprechendes Schulsystem und kulturelle Einrichtungen nicht zur Verfügung standen. In Usbekistan konnten Magajs Söhne, darunter Sergej, wenigstens in den ersten Schuljahren die koreanische Schrift und Sprache erlernen.
Vor über zwanzig Jahren entschied sich Sergej, nach Estland zu gehen, wo er eine Stelle in Tallinns Hafen bekam. Das sowjetische System empfand er im Baltikum weniger bedrückend als in seinem Geburtsland Usbekistan. Sein Vater hatte ihm stets erklärt, daß der Sozialismus nicht für Menschen geschaffen sei. Die ablehnende Haltung gegenüber diese Gesellschaftsordnung gab er an den Sohn weiter. Dazu kamen die Seitenhiebe und Demütigungen einiger Russen, die gerne herablassende Bemerkungen über die "kleinen" Koreaner machten.
In einer Moskauer Metrostation hatte er darüber einmal seine Zurückhaltung verloren und vor aller Öffentlichkeit zwei vorlaut arrogante Passanten aufgemischt. Als die Umwälzungen in Estland Ende der Achtziger stattfanden, und sich die Sowjetunion allmählich auflöste, nutzte er die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen.
Sein Hauptinteresse galt dem Aufbau eines koreanischen Restaurants. In der Telliskivi, einer Straße hinter dem Hauptbahnhof, fand er ein altes einstöckiges Holzhaus, das zum großen teil schon zerfallen war. Bei der Stadtregierung erhielt er eine Baugenehmigung, die er für die gründliche Renovierung des Hauses benötigte. Ein eingetragener Besitzer konnte nicht ausfindig gemacht werden.
Etwa 60 000 Dollar investierte er in den Wiederaufbau. Das Gebäude bekam einen gelbbraunen Anstrich und einen neuen Hof. Das Erdgeschoss wurde für die Gäste und die Küche eingerichtet. Neben koreanischen werden hier auch zentralasiatische Gerichte angeboten. Einer der Stammkunden ist der koreanische Botschafter in Helsinki. Ansonsten sind die Kunden russischer Abstammung.
Das Restaurant gehört zum guten Standard in Tallinn; der Innenraum ist mit koreanischer Dekoration ausgestattet.
Auf Verlangen erhält der Gast sogar Eßstäbchen - und so lange der Chef anwesend ist, wird im Hintergrund anstelle der obligatorischen Popmusik auch Volkstümliches aus Korea gespielt. Das Personal besteht nämlich aus Russen und Koreanern zugleich; Umgangssprache ist dagegen ausschließlich Russisch. Möglicherweise eine Ursache dafür, dass Esten selten unter den Gästen zu finden sind.
Als das Restaurant vor drei Jahren fertiggestellt war, meldete sich doch noch ein Besitzer, der jetzt da gesamte Haus zurückerhalten möchte. Die neue Stadtregierung erkennt die Verträge, die Sergej Magaj in sowjetischer Zeit abgeschlossen hatte, nun nicht mehr an. Die Eigentumsfrage ist dadurch wieder völlig offen. Der Ärger über den angeblichen Eigentümer ist umso größer, als dieser selbst in Tallinn wohnt und in der Zwischenzeit gesehen haben mußte, daß das Haus renoviert wurde.
Für Sergej Magaj steht fest: Er möchte estnischer Staatsbürger werden. Falls seine Sprachkenntnisse für den Anerkennungstest noch nicht ausreichend genug sein sollten, hofft er auf die Fürsprache seiner estnischen Freunde. Dann kann er endlich seinen roten sowjetischen gegen einen blauen estnischen Pass eintauschen. Die Alternative russische Staatsangehörigkeit kommt für ihn nicht in Frage. Außer der Sprache hat er keine besondere Bindung an Rußland. Zur russischen Kultur hält er bewußt Abstand: z.B. hat er in seinem Haus Platz für eine Buddha-Statue freigehalten, obwohl er wie viele in der ehemaligen Sowjetunion nicht sonderlich religiös ist. Er benötigt den Buddha eher als Gegengewicht zu den russisch-orthodoxen Reliquien seiner Ehefrau.
Das Obergeschoß des Ariran beherbergt neben Büroräumen und einem Gästezimmer das estnisch-Koreanische Kulturzentrum (EESTI-KOREALASTE KULTUURiÜHING). Vielleicht werden von hier aus bald neue Geschäftsverbindungen mit Südkorea geknüpft, denn der Handel ist das nächste Projekt des Sergej Magaj, der übrigens noch mehrere Gaststätten unterhält und einen Teil der benötigten Lebensmittel selber produzieren läßt.
Das Kulturzentrum ist vor allem Treffpunkt der alten Koreaner, die in dem Gemeinschaftsraum wichtige Familien- und Behördenangelegenheiten besprechen. Enge Verwandtschaftsbande sind nämlich eine der Hauptstützen der koreanischen Gesellschaft.
Bis jetzt existiert das Zentrum aber nur vom Geld und dem Enthusiasmus des Inhabers und ist deshalb nur sehr spartanisch eingerichtet. Auf einem Schrank stehen die südkoreanische und estnische Fahne nebeneinander. Eine große Hoffnung ist, wenn hier die Voraussetzungen für einen unterricht in koreanischer Sprache geschaffen werden könnten. Es ist nämlich zu befürchten, daß die junge Generation der Koreaner ohne Unterstützung von außen zwischen Esten und Russen endgültig verschwinden wird.
Nachtrag 2007: Das genannte Kulturzentrum kann aus gesundheitlichen Gründen Magajs nicht mehr weitergeführt werden. Ein Teil der (koreanisch-russischen) Jugend ist bereits ins Ausland und Übersee gegangen.