Einen turbulenten Geburtstag feierte am 4.Juli im "Pussirohukelder" ("Schießpulverkeller"), einer Bar in Tartu, der estnische Justizminister Rein Lang. Der publizistische Wiederhall spiegelt sich weitgehend in der estnischen, russischen und englischen Presse - obwohl es wieder mal um Hakenkreuze und angebliche nazi-freundliche Tendenden zu Estland geht (was auch Deutschland eigentlich etwas angehen müsste, wenn es denn so wäre). Jedenfalls weilt Ausseminister Steinmeier gerade zu einem Kurzbesuch in Estland, und wird frische Eindrücke der politischen Stimmungslage sammeln können.
Was war der Auslöser? Gut, auch wenn man 50.Jahre alt wird, sollte ein Minister nicht vergessen, dass er Minister ist. Fotos zu vorgerückter Stunde, in ausgelassener Stimmung und mit Hakenkreuz-Fahnen im Hintergrund machen sich wenig vorteilhaft für die estnische Diplomatie, das dürfte klar sein.
Wie kam es dazu?
Den pittoresken Hintergrund lieferte "Adolf", ein Theaterstück des Engländers Pip Utton, das auch in Deutschland schon aufgeführt wurde (zum Beispiel beim THESPIS-Festival 2003 in Kiel, angekündigt als "Theater gegen Rassismus".
Auszug aus der damaligen Ankündigung des Stückes: "Es gibt diverse Theorien darüber, was Hitler während seiner letzten Stunden im Berliner Führerbunker getan hat. Pip Utton bietet eine weitere Alternative an, indem er selbst in Uniform und Maske des "GröFaZ" schlüpft und eine beängstigend reale Figur abgibt, die noch einmal die letzten "1000 Jahre" Revue passieren läßt, den Holocaust ebenso wie die getreuen Gefolgsleute. Uttons ADOLF ist keine harmlose Hitler-Parodie. Es ist ein Blick auf uns selbst, auf all die "kleinen" Adolfs, die, ohne es zu wissen, den Globus bevölkern... "
(weitere Aufführungen in Deutschland: beim Maulhelden-Festival in Berlin 2004, auch 2002 in der Berliner Akademie der Künste)
Aber scheinbar macht es den Unterschied, wenn dasselbe Stück in Estland gespielt wird. Ein "Blick auf uns selbst" - das stört offenbar doch einige, und wiedermal tun sich diejenigen hervor, die vorgeben für "die Russen" zu sprechen.
Das BRITISH COUNCIL schreibt über Pip Utton: "Nach Anfangsjahren im Amateurbereich wechselte Pip Utton 1996 zum professionellen Theater über, gewann mehrere Darstellerpreise und schrieb ein rundes halbes Dutzend erfolgreicher (Mono-)Dramen."
Die "Berliner Zeitung" schrieb 2002 über das Stück: "Angesichts einer beunruhigenden Stärkung rechter Parteien und ihrer Führerfiguren in ganz Europa - Le Pen, Bossi und Fini, Haider, Kjaersgaard oder der vor kurzem ermordete Pim Fortuyn -, allesamt Rechtspopulisten, die mit fremdenfeindlichen, rassistischen Parolen auf Wählerfang gehen, setzt Berlins englisches Theater "Friends of Italian Opera" im Juni mit den Gastspielen des Unlimited Theatre aus Leeds, vor allen Dingen aber mit Pip Uttons "Adolf" ein eindeutiges Zeichen gegen Rassismus."
Der "Tagesspiegel" schrieb damals aus dem gleichen Anlaß, Utton habe bis dahin "um Deutschland einen großen Bogen gemacht, aus Angst vor Neonazis". "DIE WELT" wusste schon 1999 von einer Aufführung des Stücks in Edinburgh zu berichten, dass es auch in England dem Autor gelegentlich passiert, dass nach der Aufführung Leute zu ihm kommen, um "ihn zu seiner Denkweise zu gratulieren". "Die Welt": "Utton sensibilisiert sein Publikum derart, dass Leute auf die Bühne sprangen, um ihm an die Gurgel zu gehen."
Und eine englischsprachige Theaterkritik ("The flying inkpot") schreibt: "Utton zeigt seinem Publikum, dass - so wie die Deutschen es Hitler erlaubten die Kontrolle zu übernehmen - dies alles noch einmal passieren könnte."
In Estland - alles anders?
Nun, die Theateraufführung selbst dürfte in Tartu nicht viel anders gelaufen sein als anderswo in Europa. Es geht ja auch nicht um estnische oder russische Theaterkritiken, sondern um die pompöse und offensichtlich teilweise geschmacklose Geburtstagsinszenierung eines amtierende estnischen Minsters.
Oder ist es nur deshalb eine besonders heftige Reaktion russischer Funktionäre, da gerade Lang ja bereits früher einerseits den Stalinismus als "gleich schlimm" wie der Nationalsozialismus bezeichnet hatte, und auch Lang einer derjenigen ist, der für Gegenmaßnahmen angesichts der "Cyberattacke" russischer Nationalisten gegen staatliche estnische Webseiten mit verantwortlich zeichnet.
Die Anordnung zur Gründung des “Püssirohukelder” jedenfalls soll, so wie es auch TourismiWeb schreibt, durch die russische Kaiserin Katharina II selbst erfolgt sein. Ob die Schlagzeilen den heutigen Bewirtschaftern recht sein werden, nach dem Motto "Hauptsache, die Presse schreibt über uns"?
In der Presse des Nachbarlandes Lettland sind die Eskapaden des Ministers so wiedergegeben: "Estnischer Minister: Das Deutschland der 30er Jahre, und das heutige Russland, das ist weitgehend ein und dasselbe." (Latvijas Avize vom 9.7.07)
Sagen wir mal so: perfekte estnische Diplomatie ist das nicht. Werbung für russische Sichtweisen allerdings auch nicht.
Heute beginnen in Tartu die Hansetage.
Weitere Quellen zum Thema (bzw. Vorfall):
Eesti Päevaleht vom 9.7.07
Itching for Eestimaa (engl, inklusive einige Leserkommentare)
Delfi.ee (Estnisch)
"Eesti Express" vom 4.7.07
Baltic Times (engl.)
Regnum (engl./russ.)
Pärnu Postimees
ITAR-TASS (russ./engl.)
Kommentar Flasher_T (engl.)
Webseite Püssirohukelder
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