Also, ein wenig lustig ist diese "Weltsensation" schon, oder? Es finden ziemlich zeitgleich Wahlen in Litauen und Estland statt. Nur hat im Falle Litauens (Kommunalwahlen am 25.2.) niemand die Chance, etwas Inhaltliches davon zu erfahren. Wen interessiert's schon. Es schreibt auch niemand etwas drüber.
Und im Falle Estlands? Ebenfalls nicht. Denn Thema ist nur die "Weltsensation".
Vielleicht gibt es gegenwärtig drei Fraktionen des Interesses.
a - die Internet und IT-Jünger. "Estland wählt online" ist da schon genug. Lang und breit und ausführlich. Quer durch die Internetzeitschriften, einer schreibt vom anderen ab.
b - die Internet-Kritiker. Estland wählt per Internet? Igitt, bestimmt irre gefährlich. Keiner der hier Beteiligten darf zugeben, dass er NICHT persönlich als Hacker die estnischen Wahlergebnisse manipulieren könnte.
c - die Anti-Hype-Jäger. Sie schreiben übers online-Voting, um es dann für belanglos und kaum vom Volk genutzt zu erklären.
Eigentlich geht es doch um Macht, Geld, Einfluß, politische Repräsentanten, ihre Wähler und die Entwicklung des Landes, oder? Das interessiert aber gegenwärtig erstmal kaum jemanden. Unterschiedliche Perspektiven zeigt der Blick in die Presse der vergangenen Tage.
Gleichförmige Schlagzeilen
In einem Punkt kann Estland dieser Tage zufrieden sein: rein Image-mäßig ist ja viel gewonnen, wenn fast alle Medien das Thema "Wahlen in Estland" auf dem Zettel haben. Die Anhänger der "Weltpremieren"-Version finden sich unter anderem beim STANDARD, WELT, FUTUREZONE, MACUP, COMPUTERHILFEN.DE (sic!), BUSINESSPORTAL24, und FOCUS. Tenor: "Estland wählt online". Offensichtlich ist man als Este schon out und nicht mehr nachrichtenwürdig, wenn man NICHT online wählt, oder bei Wahlen sogar andere Ziele im Sinn hat.
Eigene zusätzliche Recherchen betreibt HEISE ONLINE. Hier steht immerhin ausführlich nachzulesen, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Wahlbeobachter entsendet. Darunter, so Heise, auch Herman Ruddijs von der Firma Sdu Uitgevers aus den Niederlanden, dessen e-Voting-System im Heimatland aufgrund schwerwiegender Sicherheitsbedenken zu den Parlamentswahlen im vergangenen November die Zulassung entzogen worden war.
In der Front der Kritiker zum Beispiel das Portal GULLI.COM. Den Autoren hier erscheint schon verdächtig, dass es in Estland fast nur positive Stimmen zum online-Verfahren gibt. Die Empfehlung der estnischen Behörde zur Nutzung des Microsoft-Internet-Explorers und von ActiveX-Steuerelementen wird hier als deutlicher Hinweis auf eingebaute Sicherheitsprobleme interpretiert.
Estland wählt virtuell: aber was?
Der Hit der vermischten Meldungen fand beim "Life-Radio" in Oberösterreich statt. Diese Meldung ist ein Zitat wert: "Und Estland wählt künftig per Mausklick. das baltische EU Land ist Vorreiter und lässt bei einer Parlamentswahl das erste Mal das Volk per Internet abstimmen. Am Sonntag fand mit der Wahl des Königs des Waldes eine Generalprobe statt - Elch, Hirsch und Wildschwein mussten als Kandidaten herhalten. Für die Online Wahl ist ein Personalausweis nötig, der mit einem Chip versehen ist." Waldtiere mit Personalausweis? Oder was bleibt wohl beim flüchtigen Leser hängen? (Liferadio, 27.2.07)
Stimmen aus dem Nachbarland
Während in der deutschsprachigen Presse offensichtlich der Onlinewahl-Hype umgeht, steht in der Presse des benachbarten Lettland völlig anderes. Warum? Vielleicht ist Janis der Durchschnittslette auf das ewig so musterhaft daherkommende nördliche Nachbarland sauer?
"Schwuler als Kandidat" - das war schon im Dezember der in Riga erscheinenden BALTIC TIMES eine Meldung wert. Andi Ravalepik soll er heißen, 27 Jahre alt sein, und auf der Liste der estnischen Sozialdemokraten kandidieren.
"Estnische Parteien verpulvern riesige Summen im Wahlkampf", so neidet die lettische Nachrichtenagentur LETA am 24.Januar daher. Ungefähr eine Million estnische Kronen (EEK) werden demzufolge für jeden Sitz im estnischen Parlament an Parteiwerbung insgesamt ausgegeben. Mit 30 Millionen EEK läge hier die estnische Zentrumspartei in den Ausgaben vorn. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass laut den letzten Umfragen dieser Partei 30 Parlamentssitze vorausgesagt werden. Wenn es so kommt, ginge die Rechnung auf.
Am 12.2. machte wiederum BALTIC TIMES das geplante "Fernsehduell" zwischen Zentrums-Chef Edgar Savisaar und dem konservativen Ex-Premier Mart Laar zum Thema. Spekulationen, ob wohl eher Geld, oder eher politische Eifersucht dazu führten, dass Mitkonkurrent und Regierungschef Andrus Ansip (Reformpartei) bei der Debatte außen vor bleiben sollte, machen dort die Runde.
DIENA schließlich, Lettlands größte Tageszeitung, entdeckt am 27.2. einige Nebenthemen der estnischen Wahlprognosen. 7% - 12% werden da immerhin den neu formierten estnischen Grünen zugetraut - wenn es so käme, ein neuer Faktor im politischen Ränkespiel.
Online-Wahl: Belanglos?
Eine eher ungewöhnliche Schlagzeile ist beim Schweizer Portal "INSIDE-IT" zu lesen: die Online-Wahlmöglichkeit in Estland sei ein "Randgruppen-Programm", da nur 20.000 - 40.000 von 940.000 Wahlberechtigten die Online-Möglichkeit voraussichtlich nutzen werden.
Nun, wir werden sehen was rauskommt - hoffentlich interessieren sich nach der Wahl genauso viele Medien für die Ergebnisse und die politischen Folgen.
Der Stand der Auszählung ist übrigens HIER zu verfolgen. Anteil der E-Votes bis zum 27.2. (die Wahl läuft ja schon): 2%.
Und übrigens: erwartet wird auch in Estland insgesamt eine sehr niedrige Wahlbeteiligung, nur um die 55%.
Politik wird's auch noch geben, hätte da noch was zu Savisaar hinzuzufügen.
AntwortenLöschenAber diese Schlagzeile ist zu gut, von tirol.com: "Internet-Voting macht Parlamentswahl in Estland "sexy"