Freitag, Mai 09, 2025

irgendwie gut

Musikalische Lehrstunde

"Es ist sooo gail!" Die estnische Musikerin Kadri Voorand sitzt am Piano und hält Zweige in die Luft, die aussehen wir dürre Nadelhölzer. Das Konzert wird unterbrochen, es werden Zweige im Publikum verteilt. Kadri Voorand singt von der estnischen Natur, von Vater und Mutter, von der Liebe. Auch von estnischen Traditionen und wundervollen Gerüchen, die gerade diese Zweige - frisch entnommen der estnischen Natur - verströmen sollen. Ein ganz besonderes Musikerlebnis - die Konzertgäste zeigen sich bewegt bis irritiert. Schon an vielen Orten in Deutschland ist die estnische Musikerin zusammen mit dem Bassisten Mihkel Mälgand aufgetreten, aber "Musik durch die Nase" wurde wohl noch nie geboten. Wir befinden uns auf der "Baltic Night" im "Zentrum für Kunst" in Bremen, ein Ereignis, aus dessen Anlass erstmals im Rahmen der Messe "Jazzahead" an einem Abend nacheinander estnische, dann lettische und schließlich litauische Musikerinnen und Musiker ihren Auftritt hatten. 

Naturkalender am Kräuterpiano

Kadri Voorand erzeugt Nachwirkungen. Natürlich lassen uns die dargebotenen wohlriechenden "Zauberpflanzen" keine Ruhe. Nein, wie man vielleicht denken könnte, Wacholder (estn.= "kadakas") ist es diesmal nicht. Kadakas wäre ja auch zum Beispiel auf Hiiumaa in Geschenkpackungen als Seife oder Duschgel erhältlich. Oder als Wacholdersirup aus Saaremaa, nicht zu vergessen die alkoholische Variante, die heutzutage meist nur noch "Gin" (džinn) genannt wird.

Diesmal geht es aber um etwas anderes. Kadri Voorands Ausruf "sooo gail" war nicht einfach als Anbiederung an das deutschsprachige Publikum gemeint, sondern bezieht sich auf den estnischen Pflanzennamen: Sookail (ledum palustre). Der estnische "Looduskalender" (Naturkalender) verknüpft die Informationen zu dieser Pflanze gleich mit einer Warnung: "Wenn man draußen in einem Zelt übernachtet kann man davon ziemliche Kopfschmerzen bekommen und sogar krank werden", so die Warnung. Dem gegenüber steht als Empfehlung: "nur für den Schutz vor Motten geeignet". Der "Sookail" ströme ätherische Öle aus von "schwindelerregenden atemberaubenden Geruch" (maakodu). 

Wahnsinnig berauschend, oder was?

Wer hat in Deutschland schon einmal "Sumpfporst" gesehen oder gerochen? Die Pflanze wächst bevorzugt in Hochmooren, auf nassen und kalkfreien Torfböden, und wurde früher zur Heilkunde verwendet, heißt es - nun aber wegen giftiger Bestandteile nicht mehr. Ein Relikt der Eiszeit. In Deutschland inzwischen, vor allem im Süden und Westen, nahezu ausgerottet (meint Wikipedia). "Der Inhaltsstoff Ledol hat oral eingenommen eine stark berauschende und narkotische Wirkung mit agressivem Charakter" (similasan). Ist das etwa der Grund, warum es so viele gruselige Geschichten von Menschen gibt, die orientierungslos im Moor herumgeirrt sind – vielleicht haben sie alle Sumpfporst gerochen …?

In Estland wie in Lettland kommt Sumpfporst aber noch derartig häufig vor, dass überall Warnungen zu lesen sind: Die Anwendung in der Naturheilkunde sollte mit ihrem Arzt oder Apotheker abgesprochen werden! Gleichzeitig wird online Abhilfe versprochen: "hierzu beraten Sie unsere Apotheker gerne" (meine-teemischung - 100g Sumpfporst kosten hier 20 Euro). An anderer Stelle kann Ähnliches mit dem englischen Begriff 'Labradortee' erworben werden. In Estland oder Lettland ist "Sumpfporst-Tee" (lettisch:"Purva vaivariņš") bei den verfügbaren Teemischungen relativ leicht zu finden und frei verkäuflich: Rezept: 5 Gramm Blüten und Blätter, in einem Glas mit heißem Wasser aufgießen und 15 bis 20 Minuten ziehen lassen (mammauntetim). So verschreibt es der lettische Arzt Artūrs Tereško als "Phytotherapie" (Kräutermedizin). Das "Estnisches Etymologie-Wörterbuch" (ETY) weist darauf hin, dass Estinnen und Esten in früherer Zeit die Kenntnisse zu dieser Pflanze und der estnischen Bezeichnung dafür eher nicht von den Deutschen, sondern von den Schweden übernommen hätten.

Wie wir in der "Livländischen Gourvernementszeitung", Ausgabe 2.7.1858 bereits nachlesen können, wurde Sumpfporst zur Herstellung von Bier verwendet, bevor im 13. Jahrhundert sich der Gebrauch von Hopfen immer mehr durchsetzte. "Im nördlichen Europa und Schweden war es früher in Gebrauch, dem Malztrank durch Ledum palustre (Sumpfporst, wilder Rosmarin), eine dort gewöhnliche Haidepflanze, Bitterkeit und eine Art von Stärke mitzutheilen." Auch die Wirkung wird beschrieben: das Bier "steige ungewöhnlich nach dem Kopfe", und auch Kopfschmerz, Ekel, und "bei übermäßigem Trinken sogar Wahnsinn" könne auftreten.
Nun ja, in Deutschland wird nur sehr selten jemand einen Strauch "Sumpfporst" von einer Wanderung mitbringen - er wäre wohl auch verboten, da es sich um eine in Deutschland streng geschützte Art handelt. Sogar Portale wie "Mein schöner Garten" geben zu, dass die Pflanze wohl unter dem Torfabbau stark zu leiden hatte. Ist das Biotop erst mal weg, kommt auch der Porst nicht wieder (nur beim Kauf im Gartencenter).

Porst ins Bier, das rat ich Dir

Es wäre in diesem Zusammenhang aber noch ein weiteres Fachgebiet zu entdecken: die Herstellung von "Grutbier". Die "Brauwelt" berichtet: "Am 1. Februar 2025 feierten Craft Bier-Fans auf der ganzen Welt den 13. International Gruitday. Dieser Tag ist der Feiertag des Grutbieres, eines Bieres gebraut mit Würzkräutern anstelle oder in Ergänzung des Hopfens, so wie es im Mittelalter Brauch war." Bezug genommen wird hier auf lateinische Quellen des Mittelalters, in denen "Grut" gleichbedeutend gewesen sei mit "fermentum, materia, levarentur und pigmentum" - also: Substanzen zur Herstellung von Bier. (Brauwelt) Genauer gesagt: als häufigste Zutaten zum Bier galten damals "Gagel und Porst" (Gagelstrauch und Sumpfporst). Gleichzeitig wird zugegeben: wer damals noch über "Gagel und Porst" hinausgehen wollte, griff auch zu Fliegenpilz, schwarzem Bilsenkraut, Tollkirsche und Stechapfel - alle mit (mindestens) halluzinogenen Eigenschaften. Wir ahnen die Bedeutung eines "Reinheitsgebots", auf dessen verschiedene Traditionen ja besonders das bayrische Bier besonders stolz ist.

Bei "Hopfenhelden" wird nicht ohne Stolz auf heutige Hersteller von "Grutbier" verwiesen, so ungefähr nach dem Motto: hast Du eine Kräuterwiese, kannst Du auch Grutbier brauen. "Porst" wird dabei allerdings nicht erwähnt, denn, wie gesagt: in Deutschland gibt es ihn beinahe nicht mehr, und er steht unter Artenschutz. Dennoch, wer's kräuterhaltig mag: Wohl bekommt's!

Eine Erkenntnis: beim Genuss von estnischer Musik können wir einiges lernen - wenn wir nur richtig hinriechen. Vielleicht nicht "super-geil", aber irgendwie gut.

Donnerstag, April 10, 2025

Bildung jetzt auch künstlich

An Schulen in Estland soll es in Zukunft mehr künstliche Intelligenz geben - aber nein, das bedeutet nicht das Lehrerinnen und Lehrer nun durch Roboter oder Plastikpöppel ersetzt werden sollen. Vor einigen Wochen kündigte Präsident Alar Karis den "TI-Hüpe" (den "KI-Sprung") an, und mit dieser Initiative, benannt nach dem "Tiigri-Hüpe" ("Tigersprung"), der symbolisch die Digitalisierung Estlands einleitete, soll mehr künstliche Intelligenz in den Schulen nutzbar gemacht werden. Die estnische Regierung hat dazu ein Partnerschaftsabkommen mit "OpenAI" abgeschlossen, der Firma die auch "ChatGPT" entwickelte. (Estonian World Review / Forbes)
 

Nur die klügsten

"Wir werden nicht diejenigen sein, die künstliche Intelligenz am meisten nutzen, aber am klügsten", so lässt sich Präsident Karis zitieren. Und Linnar Viik, einer der Initiatoren des "TI-Hüpe", meint: "Künstliche Intelligenz wird uns nicht die Jobs der Zukunft ersetzen, sondern diese Jobs werden Menschen einnehmen, die KI klug nutzen können." 
In einer ersten Projektphase erhalten am 1. September 2025 20.000 Schüler an Hoschulen (Klassen 10–11) und 3.000 Lehrer Zugang zu KI-basierten Lernanwendungen. Danach soll das Programm dann auf Berufsschulen und neue Schüler der 10. Klasse erweitert werden und letztendlich weitere 38.000 Schüler und 2.000 Lehrer im Jahr 2026 erreichen. (ti-hupe.ee)
 

KI zum Sonderpreis

Programme wie "ChatGPT Edu" sollen dann in Estland eingesetzt werden. Dazu berichten Portale wie "decoder", "cointelegraph" oder "Unidigital", dass die US-Firma auch bei deutschen Hochschulen schon angeklopft und "Bildungsrabatte" angekündigt habe; als Alternative stünde aber auch "HAWKI" (datenschutzkonform) zur Verfügung. 
Auch die Uni Göttingen nutzt KI-Programme, weist aber auch auf Schwierigkeiten hin: es gebe keine Garantie, dass von einer KI generierten Texte auch stimmen, denn die KI "lerne" auch aus Falschinformationen. 
 
Workshops zur Weiterbildung von Lehrkräften an Schulen oder Universitäten bietet in Estland eine "Eesti Haridustehnoloogide Liit" EHTL (Union der estnischen Bildungstechnologen) an (750 Euro pro Kurs). Dabei gilt als "Bildungtechnologe", wer "Mitarbeiter einer Bildungseinrichtung ist, die ein modernes Verständnis für Lernen und Kompetenz in der digitalen Technologie hat." Schon 120 Schulen hätten sich für solche Workshops angemeldet, heißt es (err). Gut ausgebildete Menschen auf diesem Gebiet wurden auch schon mal als "Geheimwaffe des estnischen Bildungswesens" angesehen. 
 

Künstlich, aber gesteuert

"Die Sorge ist, ob das, was die Schüler gegenwärtig mit KI tun, tatsächlich nützlich ist, ob sie ihnen hilft, zu lernen", meint Diana Veskimägi, Vorsitzende der EHTL. Ilona Tragel dagegen, Professorin für Estnische Sprache an der Universität Tartu, sorgt sich eher darum dass die bisherigen KI-Trainingsprogramme eher mit englischer Sprache entwickelt worden seien. "Wenn Schülerinnen und Schüler häufig großen Mengen an Text ausgesetzt sind, die in Estnisch zu sein scheinen, aber tatsächlich den englischen Satzstrukturen folgen - und, noch schlimmer, nur dem englischsprachigen Weltwissen - dann kann es problematisch werden", meint sie. (err)
 
Und auch die estnische Behörde für Cybersicherheit ("Information System Authority" RIA) möchte noch ein Wörtchen mitreden. "Wenn es keine klaren Richtlinien gibt, dann laden Studierende alles Mögliche, also Schuldokumente, persönliche Daten, auch etwas von zu Hause in diese Systeme hoch - daher sollten die Schulen und Hochschulen auch eigene Sicherheitssysteme entwickeln," sagt RIA-Repräsentant Lauri Tankler. (ERR)

Montag, März 03, 2025

Ausgeskeipt

Es gab Zeiten, da hing das Telefon noch an einer Schnur, oder es war in Telefonzellen zu finden. Und in Estland gab es Zeiten, als öffentliche Telefone nur scheinbar zufällig mal funktionierten. Aber noch bevor diese kleinen Geräte in unseren Alltag Einzug hielten, die heute nahezu jeder und jede täglich mit sich herumträgt, wurde Skype erfunden.

Das war 2003. Für Estland war es noch die schwierige Übergangszeit: warum müssen diese kleinen baltischen Länder unabhängige Staaten sein? Auf der europäischen Bühne schienen noch nicht alle verstanden haben, warum das für Estland unverzichtbar ist. Und Estland war noch kein Mitglied von EU und NATO, einige brachen noch auf zu trügerischen Billigjobs in Irland oder England, oder ins scheinbare Traumland USA. 

Drei Einhörner

Es ist tatsächlich wahr, dass einer der drei IT-Entwickler, der "Skype" mit erfand, mit Nachnamen "Tallinn" hieß: Ahti Heinla, Priit Kasesalu und Jaan Tallinn. Offenbar haben alle drei versucht, ihr durch den Verkauf von "Skype" verdientes Geld wieder zu investieren: Ahti Heinla ist an den "Starship"-Robotern beteiligt, die in Tallinn an vielen Stellen die Pakete ausliefern. Priit Kasesalu hat auch "Kosmonaut", das erste kommerzielle Computerspiel in Estland mit entwickelt, und arbeitet heute bei Ambient Sound Investment. Über Jaan Tallinn heißt es, er sei zu einem der bekanntesten estnischen Expoerten zu "künstlicher Intelligenz" (KI) geworden und nun führender Investor und Anwalt für KI-Sicherheit. Außerdem sei er Anhänger von Kryptowährungen und halte einen großen Teil seines Vermögens in Bitcoin. Er hat unter anderem in "DeepMind" investiert, das inzwischen zu "GoogleDeepMind" geworden ist. (investinestonia)

Von der Öffentlichkeit vergessen scheint inzwischen, dass es mit Toivo Annus noch einen weiteren Beteiligten an der Skype-Erfolgsgeschichte gab. Er starb 2020 im Alter von nur 48 Jahren (estonianworld). Microsoft hatte den Web-Anruf-Pionier "Skype" 2011 für 8,5 Milliarden Dollar (rund 8,2 Milliarden Euro) gekauft.

Steigendes Selbstbewußtsein

Estland hat inzwischen den Minderwertigkeitskomplex, als kleine Nation keinen Einfluss in der Welt zu haben, abgelegt - das schrieb im vergangenen Jahr Journalistin und Schriftstellerin Airika Harrik. Vor 20, 30 Jahren hätten sich die Esten als kleine, arme Menschen gesehen, die durch die Winde der Geschichte herumgeworfen würden; inzwischen aber beschäftigten sie sich auf globale Politik. Sie zitiert Alar Kilp, Dozent für vergleichende Politik an der Universität von Tartu, mit der Aussage: "Bis 2020 wurde eine Art Erfolgsgeschichte nach Möglichkeit hervorgehoben - ob ein olympischer Sieg, Skype, Arvo Pärt oder jemand anderes". Nach Ansicht von Kilp könnte es jedoch sein, dass Estinnen und Esten inzwischen als Nation ein gewisses Maß an Selbstvertrauen erreicht haben: "Erfolge sind die Norm, und es besteht keine Notwendigkeit, jeden Sieg so laut wie möglich hinauszutrompeten." (err)

Ende ohne Schrecken

Auch in der deutschsprachigen Presse findet das "Ende von Skype" breiten Widerhall. Während die einen dieses Ende "überraschend" finden (Kleine Zeitung) oder sogar titeln "Skype stirbt" (Computerwoche), analysieren andere die Gründe für das Aus und konzentieren sich auf praktische Tipps für Nutzerinnen und Nutzer: "Skype verlor insbesondere während der Corona-Pandemie Marktanteile an Konkurrenten wie Zoom oder WhatsApp. Microsoft Teams hat sich inzwischen allerdings als einer der führenden Anbieter im Markt für Kollaborationssoftware etabliert und spielt eine zentrale Rolle in der Unternehmenskommunikation." (ZDF)

Nico Ernst schreibt für "Heise.de" in einer Analyse: Was damals fehlte, war "das eine Programm – damals noch nicht 'App' genannt – das Sprache, Chat, Screensharing und Dateiübertragung vereinte. Und das einfach nur funktionierte. Das war Skype." Und weiter: "Den Sprung aufs Smartphone hat Skype aber schlecht hinbekommen, sondern WhatsApp, Signal und Co. waren dort allgegenwärtig." Resumee: der Pionier tritt ab. Und: "Mal sehen, wie lange 'skypen' noch im Duden steht."

Freitag, Februar 28, 2025

Das Steuer, die Steuer


Lange war es ein umstrittenes Thema in Estland: zum 1. Januar 2025 wurde eine Kraftfahrzeugssteuer eingeführt - als eines der letzten Länder in Europa, wie es heißt. Für alle registrierten Fahrzeugbesitzer bedeutet das zweimal zahlen: eine Gebühr für die Registrierung, und einen Beitrag pro Jahr.

In Estland fahren, so hieß es bisher, die ältesten Autos in der ganzen Europäischen Union (zusammen mit Griechenland). Und pro Neuwagen seien es bisher 141g CO2-Ausstoß pro Kilometer gewesen - gegenüber 110g im EU-Durchschnitt. (ARTE) Manche bezeichneten Estland bisher als "Autofahrerparadies" ("Die Presse")

Immerhin kamen für eine Petition gegen das neue Gesetz 70.000 Unterschriften zusammen - konnten das In-Kraft-Treten aber nicht verhindern. 

Estlands Autoverkäufer profitierten kurzfristig, und wunderten sich: viele wollten noch schnell Ende 2024 ein Auto kaufen, aber tatsächlich gekauft wurden nicht die kleinen Modelle, sondern große CO2-Schleudern, die gerade vom neuen Gesetz am meisten betroffen waren (ARTE). 

Rettungsfahrzeuge, Fahrzeuge für den diplomatischen Dienst, oder Militärfahrzeuge sind in Estland von der Kraftfahrzeugssteuer befreit. Aber Ülle Madise, die in Estland als "Õiguskantsler" so eine Art "Ombudsfrau" in Verfassungsfragen darstellt, fordert noch weitere Nachbesserungen und Ausnahmeregelungen. "Wenn an einem bestimmten Datum im Kalenderjahr ein Auto registriert wird," erläutert sie, "muss die Kraftfahrzeugsteuer für die verbleibenden Tage dieses Jahres gezahlt werden. Wenn aber das Fahrzeug schon am ersten Tag des Jahres kaputt geht, oder gestohlen wird, ist beispielsweise die volle Jahressteuer noch erforderlich, obwohl das steuerpflichtige Vermögen nicht mehr vorhanden ist. Sollte nun eine Person es sich leisten können, ein neues Auto zu kaufen, dann muss sowohl für den Vermögenswert, den das alte Auto hatte, wie auch für das neue Steuer gezahlt werden. Auch die Registrierungsgebühr kann nicht erstattet werden." (err)

Eine Steuerberechnung für jeden einzelnen Nutzungstag scheint nicht möglich, aber eine Verbesserung wäre es schon, so Madise, wenn die Steuer vielleicht vierteljährlich berechnet werden könnte. Und auch an Fahrzeuge die von Behinderten genutzt werden, sowie an kinderreiche Familien sollte vielleicht noch gedacht werden, meint die Expertin.

Im vergangenen Jahr gab es Berichte, denen zufolge etwa 200.000 Autos zwar in Estland registriert, aber offenbar nicht mehr in Benutzung seien. Die Hauptstadt Tallinn habe 2024 mit etwa 500 Autos zu tun gehabt, die irgendwo in schrottreifem Zustand stehen gelassen worden waren (err).

Gemäß Zahlen des estnischen Statistikamtes wurden im Dezember 2024 7046 PKWs in Estland registriert - doppelt so viel wie im Dezember des Vorjahres. Im gesamten Jahr 2024 wurden 50424 PKWs in Estland gekauft, darunter 25746 Neuwagen. Das bedeutete insgesamt eine Steigerung um 7%, bei Neuwagen um 12%. (err

Zum Verkehrsaufkommen in Estland einige Zahlen im Vergleich: an der A2 Anschlußstelle Hannover-Ost werden pro Tag etwa 85.000 PKW gezählt, dazu Schwerlastverkehr von ca. 20.000 Fahrzeugen. Am Frankfurter Kreuz waren es 120.000 PKWs (+ 20.000 LKWs). In Aurich / Ostfriesland waren es ca. 18.500 PKWs (+950 LKWs), und in Freiberg /Sachsen 13.500 PKWs (+750 LKWs). Alle Zahlen bezogen auf das Jahr 2022 (Bast) Auf dem Kölner Ring sollen auch schon 170.000 PKWs pro Tag gezählt worden sein (Wikipedia) Europaweit stiegen die CO₂-Emissionen im Personenverkehr von 1990 bis 2019 um 33,5%. (europarl)
 

Montag, Januar 20, 2025

Aber bitte mit Sahne!

Manchen mag es ja als gute Regel gelten, von fremden Sprachen jeden Tag ein neues Wort zu lernen. Also nehmen wir uns auch mal wieder etwas Estnisches vor: Vastlakukkel. Die Bäckereien Estlands melden bereits seit Jahresanfang unruhige Kundinnen und Kunden, denn bald beginnt die Jahreszeit für diese Köstlichkeit - so meldet es die estnische Presse. (err)

Süße Jahreszeiten

Doch was ist das? Kommt uns dies nicht irgendwie bekannt vor? Zumindest wer nur die Abbildung sieht, könnte sich an verschiedenes erinnern, das auch in deutschen Landen bekannt ist: ein "Berliner" mit Sahne? Oder vielleicht ein "Berliner Pfannkuchen"? Ein Krapfen? Ein Kräppel oder Puffel? 

Irgendwo scheint es auch mal die Bezeichnung "Faschingskrapfen" oder "Fastnachtsküchle" gegeben zu haben - und da sind wir dann offenbar auf der richtigen Spur.  

Und es gibt auch Spuren nach Skandinavien: "semla" (Schwedisch), "fastlagsbulle" (finnlandschwedisch), oder "laskiaispulla" (finnisch). Teilweise mit Füllung, teilweise mit heißer Milch serviert, heißt es.

"Shrove croissants" in Tallinn

Fasten, oder schlemmen? 

Und eben das estnische "vastlakukkel". Das estnische Wikipedia meint dazu: "traditionelles Gebäck, das in Skandinavien, Island, Finnland und den baltischen Ländern am Neujahrstag vor dem Fasten hergestellt wird. In Estland sind diese Brötchen vor allem als Neujahrsessen bekannt." Hinzugefügt wird hier, dieses Gebäck sei vor allem in Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Island, den Färöer-Inseln, Estland, Lettland, Litauen und "einigen Regionen Deutschlands" bekannt. Ok, vielleicht ist das estnische Selbstbewußtsein ja in diesem Fall ähnlich hoch wie beim Marzipan - von dem ja auch behauptet wird, es sei in Tallinn erfunden worden (siehe Jaan Kross: "Marts Brot"), und nicht etwa in Lübeck. Also: etwas sehr estnisches .... und irgendwo in Deutschland auch noch. 

Ein "Vastlakukkel" wird, gemäß der estnischen Beschreibung, aus Hefeteig plus evtl. Schlagsahne, Kardamom, Marzipan, Mandelbrösel oder Vanillecreme hergestellt. Dazu wird uns erklärt, dass die strenge Einhaltung der Fastenzeit "nach der Reformation verschwunden sei" (offenbar gilt das für Estland). Heute seien diese "Neujahrskuchen" von Januar bis Ostern in vielen Lebensmittelgeschäften und Konditoreien in Estland zu haben.

Geht weg, wie warme ...

Durchschnittlich 100 Stück Vastlakukkel, am Wochenende bis zu 200 verkauft derzeit die Bäckerei "La Boulangerie" in Tallinn, verrät der Eigentümer (ERR) - obwohl der Slogan gerade dieser Bäckerei eher "ein Stück Frankreich in Estland" ist. Und Kenneth Karjana, Eigentümer der Bäckerei "Karjase Saia" sagt, er würde dieses Gebäck "die ganze kalte Jahreszeit durch" herstellen (dort angegeboten als "Shrove Croissants"). Ob man nun den Stückpreis von 4-5 Euro akzeptabel findet, ist wohl den Genießerinnen und Genießern zu überlassen. Der Bäcker selbst scheint Sorge zu haben, ein Preis von über 5 Euro könne "sich eine estnische Familie nicht mehr leisten". (ERR)

In einem früheren Beitrag ist bei ERR dann allerdings doch zu lesen, die Esten hätten diese Tradition wahrscheinlich doch eher von den Deutschen übernommen, die zu früheren Zeiten im Lande gewohnt hätten. So wird wohl die Behauptung von "nach der Reformation verschwunden" eher zu "mit dem Ende der deutschen Vorherrschaft verändert". Professorin Reet Bender, Expertin für deutsche Sprache und Kultur, führt das auf Rezepte aus dem 18. Jahrhundert zurück, wo es als "heiße Wecken" in Estland verkauft worden sei. Die Deutschbalten hätten es früher sogar gern mit Rosinen und sogar Rosenwasser gebacken. Die Sahne sei dann in den 1920iger und 1930iger Jahren dazugekommen, denn Estland, als Agrarland, habe damals ausreichend viel davon produziert, und man habe es dann zu vielen Speisen hinzugenommen. Heute sei es ja manchmal auch ein Massenprodukt, so Bender, aber zu Hause könne es natürlich jeder und jede gern so üppig wie gewünscht herstellen.

Frisch empfohlen

Auch einige "Influencer" und Blogger haben das Gebäck schon entdeckt. Beim "Schneehörnchen" heißt es "auf zum Semlor essen"; die estnische Variante wird erwähnt, das Rezept ist wohl eher schwedisch. "Nordic Estonia" präsentiert "Vastlapäev" mit dem zugehörigen Gebäck, versteigt sich aber beim Blick aufs Nachbarland Lettland darauf, dasselbe würde dort "vēja kūkas" ("Windkuchen") heißen - nun ja, da sind wir doch eher beim Windbeutel, Elair, oder Blätterteig (ich kenne es aus Riga mit der Bezeichnung "Vēcrīga", Rezept hier). Die Sahne kommt hier nicht drauf, sondern hinein. 
"Estoniancuisine" klärt uns darüber auf, dass es in Estland zwei Fraktionen gäbe: die einen meinen, es gehöre ausschließlich Schagsahne auf den Vastlakukkel, aber die anderen wollen auch Marmalade drauf haben. Und eine Regel: lieber ein frisch gebackener Vastlakukkel am Morgen, als zehn alte pro Tag. Wie auch immer: nicht nur zur Fastenzeit ...