Dienstag, März 07, 2023

Sortierfähige Varianten

Sechs Parteien haben es in das neu gewählte estnische Parlament (Riigikogu) geschafft. Die Reformpartei von Regierungschefin Kaja Kallas hat nun die Partnerwahl. Da lohnt ein Blick ins Dickicht der übrigen Parteien. 

Nein, mit Regierungschefin Kallas ist Kristina Kallas, die Spitzenkandidatin bei "Eesti 200" auf der Liste Tartu, nicht verwandt. In den Jahren 2015–2019 war sie Direktorin des Narva College der Universität Tartu und spricht neben Estnisch, Russisch und Englisch auch Polnisch, denn sie ist mit einem Polen verheiratet.
Die Partei "Eesti 200" wurde in dem Jahr gegründet, als "Estland 100" gerade gefeiert wurde - 2018. Zunächst scheiterte die Partei aber zweimal: 4,4% bei den Parlamentswahlen 2019 reichten ebenso nicht wie die 3,2% bei den Europawahlen im selben Jahr. "Eesti200" setze auf Wissenschaft und Fakten, betont Kallas. Die Partei sei liberal und progressiv, aber nicht konservativ - denn wenn Estland nur auf sich selbst schauen würde, wäre Estland nicht überlebensfähig. Eesti 200 interpretiert "progressiv" als Pro-EU, Pro-NATO, auch pro gleichgeschlechtliche Partnerschaften und für Militärausgaben in Höhe von 3% des BIP. Kallas sagte in einem Interview, sie wolle das Geld, mit dem bisher kostenloser öffentlicher Nahverkehr in Tallinn gewährleistet werde, lieber in ein besseres Bildungssystem stecken (err). 

Bei der EKRE gibt man sich konservativ und nationalistisch; Parteichef Martin Helme deutet das so: "in der gegenwärtigen politischen Landschaft müssen wir immer kämpfen." Helme ist ein Freund klarer Aussagen: "Die sogenannten 'Eliten' in Europa und in Nordamerika sind dermaßen korrupt, damit möchte ich nichts zu tun haben" meint er und diagnostiziert eine weltweite Auseinandersetzung zwischen "Souveränisten" und "Globalisten", wobei seiner Meinung nach erstere immer auch Nationalisten seien (err). Außerdem sei Estland gegenwärtig keine wahre Demokratie, behaupet Helme - denn Mitglieder von Oppositionsparteien landeten in Estland regelmäßig vor Gericht, während Mitglieder von Regierungsparteien seiner Meinung nach offenbar davor auf geheimnisvolle Weise geschützt seien. 

Weit weg von Koalitionsüberlegungen ist dagegen die neu gegründete Partei "Parempoolsed" gelandet, die den Parteinamen lieber mit "richtig" als mit "rechts" übersetzt wissen möchte. Zwar wurden nur 2,3% der Stimmen erreicht, das reicht aber immerhin um staatliche Wahlkampfkostenunterstützung zu bekommen. Parteichefin Lavly Perling kommentierte das so: "2,3%, das sind hoch qualitative Stimmen mutiger Leute." (err)

Gleiches gilt auch für die "Vereinigte Linke" (Eestimaa Ühendatud Vasakpartei - EÜVK), die nach 0,1% Wählerstimmen 2019 diesmal zusammen mit der "Koos/Вместе"-Bewegung antrat. Deren Kandidat Aivo Peterson, der kurz vor der Wahl von Russland besetzte Gebiete in der Ukraine besucht hatte, erreichte in Ida-Virumaa, wo die Wahlbeteiligung mit 46,7% beonders niedrig war, 3969 Stimmen. Zu einem Parlamentssitz reichte das nicht. (err)

Kandidatin Yana Toom dagegen reichten immerhin schon 3.546 Stimmen für einen Parlamentssitz, da sie auf der Liste der Zentrumspartei kandidierte. Allerdings ist sie gegenwärtig noch Abgeordnete im Europaparlament - falls sie darauf nicht verzichtet, wird Aleksej Jevgrafov, Ex-Bürgermeister von Narva, nachrücken: mit nur 1402 persönlichen Stimmen. Die Zentrumpartei zeigt sich ansonsten flexibel: "Wir hatten schon Koalitionen mit allen bisher im Parlament vertretenen Parteien", sagt Tanel Kiik, der auch stellvertretender Bürgermeister von Tallinn ist, "wir schließen auch jetzt keinen möglichen Partner aus." (err)

Auch die estnischen Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokraatlik Erakond) können sicher davon ausgehen, als Koalitionsprtner in Betracht zu kommen. "Im Gegensatz zu anderen Parteien gibt es wenige, die uns hassen", streicht Piret Hartmann, gegenwärtig Kulturministerin im Kabinett Kallas, heraus. Eine Koalition mit EKRE schließt sie allerdings aus. (err)

Mihhail Stalnuhhun erntete 4578 Stimmen als unabhängiger Einzelkandidat, ebenfalls in Ida-Virumaa. Stalnuhhun war aus der Zentrumspartei ausgeschlossen worden, nachdem er infolge der Beseitigung eines sowjetischen T-34-Panzers Mitglieder der Zentrumspartei als "Faschisten" und "Nazis" bezeichnet hatte (err) Jetzt fehlten ihm nur etwa 400 Stimmen, um als unabhängiger Kandidat einen Parlamentssitz zu erringen.

Die estnischen Grünen dagegen verfehlten mit nur 1% sogar die geringst möglichen Ziele. 

Einige Beobachter sehen auch die Vaterlandspartei "Isamaa" als große Verlierer der Wahl. Die Reformpartei habe nun so viele mögliche Koalitionsoptionen, dass die Isamaa mit nun nur noch 8 Sitzen (vorher 12) wohl kaum gebraucht werde. Parteichef Seeder benannte für die Fall einer erneuten Regierungsbeteiligung den Übergang des Bildungssystem zum rein estnischsprachigem Unterrricht als Priorität für seine Partei. (err)

Die rechtskonservative EKRE scheint sich nun inzwischen vor allem auf Zweifel am E-Voting zu fokussieren. Henn Põlluaas, stellvertretender Parteivorsitzender, meint Estland sei merkwürdigerweise das einzige Land mit E-Voting, während andere Länder eher zweifelten und sich dagegen entschieden hätten. Er kündigte eine Prüfung des gesamten Wahlsystems durch unabhängige Experten im Fall einer Regierungsbeteiligung der EKRE an. (err)

Übrigens werden künftig 30 Frauen im estnischen Parlament vertreten sein - bisher waren es 28 und bei den Wahlen 2015 waren es nur 24 gewesen. (err)

Regierungschefin Kallas zufolge erwägt die Reformpartei vier verschiedene Optionen:
1) Reformpartei mit Zentrumspartei
2) Reform, Sozialdemokraten und Isamaa (so wie bisher)
3) Reform, Eesti 200 und Isamaa
4) Reform, Eesti 200 und Sozialdemokraten.

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