Freitag, November 25, 2016

Für'n Schnaps nach Lettland

"Alkoholmeile" im Hafen Tallinn - nicht mehr gut genug
für Freunde des Hochprozentigen?
Neu geschaffene Buslinien bringen im Hafen von Tallinn eingetroffene Gäste nun direkt weiter zur lettischen Grenze - das berichtet die estnische Nachrichtenagentur ERR. Die Firma "Raihan Group OÜ" eröffnete jetzt eine neue, spezielle Route: direkt zu den Grenzorten Ikla und Valga, bereit für den Kurzeinkauf auf der anderen Seite der Grenze, in Lettland.
Rund 50 Euro kostet die Fahrt immerhin, eine Stunde Zeit fürs Shopping am Zielort, plus eine Mahlzeit auf der Rücktour. Abends können die Kunden dann zurück in Tallinn sein.
Momentan wird die "Säufer-Linie" noch ohne Zwischenhalt angeboten.

Wegen der geringeren Verbrauchssteuer in Lettland lohnt sich der Trip sowohl für Esten wie auch Finnen. Die einschlägigen Läden werben sowohl mit ihren Preisen, wie auch der Geschäftslage unmittelbar an der Grenze - konsequenterweise nur in Estnisch und Finnisch. Der Laden einer Alkoholkette im lettischen Valka wurde kürzlich erst um 300m2 erweitert.

Steuererhöhungen in Estland machen es seit einiger Zeit verlockend, Alkohol jenseits der estnischen Grenze im südlichen Nachbarland einzukaufen. Die gegenwärtig gültigen Gesetze erlauben es Estinnen und Esten bis zu 10 Liter Hochprozentiges und 110 Liter leichtere alkoholische Getränke einzuführen. Einer Umfrage zufolge haben in den Grenzbezirken zu Lettland bis zu 70% der estnischen Einwohner/innen schon mal günstigen Alkohol in Lettland gekauft.

Die estnischen Grenzbehörden überlegen bereits eine Kontrolle von Alkoholtouristen durch Kameras, nachdem im Spätsommer bei Kontrollen Fahrzeuge aufgefallen waren, die Alkohol in großen Mengen transportierten, offenbar um dies in Finnland weiterzuverkaufen. Die Rekordmenge wurde bei einem Kleinbus festgestellt, der 1 1/2 Tonnen Bier mit sich führte.
In der lettischen Zeitung DIENA ist ein Preisvergleich nachzulesen: 24 Dosen A. Le Coq Premium Bier kosten in Estland 15 Euro, an der Grenze in Lettland aber nur 9,25 Euro. Und wer dann noch auf die lettische Marke "Aldaris 1865" umsteigt, zahlt für dieselbe Menge noch 7,49 Euro.

Mittwoch, November 16, 2016

Kleinstadtrituale, mütterlich

Estlands allernormalstes Leben findet offenbar in Ida-Virumaa statt: so zeigt es jedenfalls der Film "Ema" (Mutter) von Kadri Kõusaar, Hauptfilm der diesjährigen "Estnischen Filmabende" (EFA05) in Norddeutschland (in Kiel, Hamburg, Berlin, Oldenburg und Bremen). Es ist einer derjenigen Filme, wo empfohlen werden kann, sich vorher den Trailer zum Film anzusehen: es geht hier nur scheinbar darum, einen Kriminalfall aufzuklären.

Lauri, ein junger, offenbar lebenslustiger Mann in einer estnischen Kleinstadt und Lehrer an der örtlichen Schule, wurde von einer maskierten Person überfallen. Seitdem liegt er im Koma, inzwischen im eigenen Elternhaus, gelegentlich visitiert von einer eher gelangweilten Ärztin, betreut und geflegt von der eigenen Mutter. Den Drehort, eben ausgerechnet Ida-Virumaa, habe man deshalb gewählt - so erzählte die Produzentin Aet Laigu bei der Vorführung in Bremen - weil dort am besten diese Art von recht gesichtslosen Reihenhäusern zu finden war, der die Atmosphäre des Films prägt. Hier weht noch nicht der Wind der estnischen Start-ups und der virtuellen Servicewelten: die Wohnungsausstattung atmet den Geruch der 1980iger Jahre, immer wieder hektisch bestaubsaugt von der fürsorglichen Mutter.

Ob die Eltern vor diesem Ereignis im Mittelpunkt des Gemeindelebens standen, wer weiß es. Aber spätestens jetzt ist dieses Haus der Anlaufpunkt für viele Fragen: jeder und jede möchte mal mit Lauri, immer noch reglos im Koma liegend, ein paar Minuten allein sein. Das Dilemma ist offensichtlich: Antworten kann es hier keine geben. Vielleicht hofft jeder Besucher darauf den Moment zu erwischen, wo Lauri doch noch wieder aufwacht? Oder doch noch die großen Geldsummen zu finden, die er Gerüchten zufolge irgendwo versteckt haben soll?
Die Klassensprecherin aus Lauris Schulklasse hofft immer noch, mit ihrem heimlichen Schwarm beim nächsten Ausflug auch mal allein sein zu können. Lauri's Freundin bleibt sogar über Nacht, versucht Momente der vergangenen Zweisamkeit zu bewahren und gesteht ihrem Liebsten all ihre Sünden. Der Ortspolizist, nach vergeblichen Versuchen auf eine Karriere als Kommissar aufzuspringen hier im Örtchen gelandet, spielt professionelle Nachforschungen vor um seine Selbstachtung nicht zu verlieren. Elsas Mann, zusammen mit seinen Jagdfreunden (allesamt riesige estnische Kalevipoegs von Statur), sorgt sich um die Pflanzordnung im Garten und schläft regelmäßig vor dem Fernseher ein. Andres, offenbar für verschiedene Bauvorhaben in der Gemeinde zuständig, hat sich offenbar Geld von Lauri geliehen und verzweifelt daran, dass er nun dessen Verbleib nicht erklären kann, aber weiter in großen Schwierigkeiten steckt.

Vielleicht eine interessante Vorstellung für alle, die umziehen müssen an einen fremden Ort: wie wäre es, wenn die neuen Mitbewohner und Nachbarn alle der Reihe nach im eigenen Schlafzimmer vorbeiprominieren würden? Sowas passiert ja manchmal erst, wenn man wieder geht: hier kommt die Kondolenz zu früh, fast peinlich berührt betreten alle Gäste das Haus.

Aet Laigu
Am Anfang wie am Schluß des Films ein Geräusch, wie man es vom Abspielen einer Schallplatte kennt: die Nadel hängt noch in der Mitte, alles ist gespielt, und wird nun, da niemand das Gerät ausstellt, nur noch immer wieder von der letzten in die vorletzte Rille gezwungen. Endlos. Der Film hätte auch "Ritual" heißen können; ritualhaft sitzt Elsa immer wieder mit allen Gästen am Küchentisch, bietet Kaffee, Kuchen und geschmierte Brote an, und ist doch froh, wenn niemand der Eindringlinge Schmutz oder Gerüche hinterlässt. Aber gleichzeitig ist Elsa keine vereinsamte Hausfrau, die ihr Leben nur bedauern würde, die nie ihre Träume hätte realisieren können. Sorgsam organisiert sie sich, an den ihr sittsam bekannten Gewohnheiten ihres etwas pflegmatischen Mannes entlang, auch ihren Liebhaber: stets erscheint er mit relativ kümmerlichen Blumen, aber immerhin. Allerdings ist auch der Liebhaber kein Ausbruch aus der Biederlichkeit. Wer hierüber detaillierter nachdenkt, käme auch dem Plot der erzählten Geschichte näher.

Produzentin Aet Laigu ist mit diesem Film schon auf über 20 Filmfestivals zu Gast gewesen, erzählte sie in Bremen. Von ungewöhnlichen Zuschauerfragen nur inspiriert und offenbar immer noch voller Engagement für den Film, berichtet sie von Reaktionen in Kleinstädten auf anderen Kontinenten, wo Zuschauer gesagt hätten: "Ja, auch wir erkennen einen Teil unseres Lebens, etwas für uns Typisches in diesem Film." Gut für "Ema", denn er wirkt auf gewisse Weise wie das aktuelle Gegenstück zum "Supilinn"-Film (dt. "Das Geheimnis der Suppenstadt"), wo ganz unverhohlen Finanzmittel locker gemacht wurden, um speziell für die schöne Stadt Tartu zu werben, und sogar Sponsoren in die Handlung eingebaut erscheinen, ohne es groß zu verstecken (z.B. DHL-Paketwagen). Bei "Ema" dagegen ist alles möglicherweise Wiedererkennbare vermieden: sogar Estinnen und Esten werden keinen Platz mit einem örtlich bekannten Denkmal oder Brunnen, Rathaus oder anderem Gebäude einer bestimmten estnischen Stadt wiedererkennen können - außer vielleicht ihrem eigenen, früheren Leben.

Es wurden sogar schon Parallelen gezogen zu Alfred Hitchcock - Spannung bietet "Ema", in ritualhaften Spiralen, bis zum Schluß. Nicht immer steht allerdings, wie jetzt in Bremen, eine der Filmemacherinnen für Nachfragen zur Verfügung. Falls es die gerüchteweise schon recht betagten Mitglieder der "Akademie für die Kunst der bewegten Bilder" (AMPAS) schaffen, sich den Film in Ruhe anzusehen, vielleicht gibts ja den begehrten "Verdienstpreis der Akademie" - "Ema" ist nominiert für den Oscar für den besten fremdsprachlichen (nicht englischen) Film (siehe: Hollywoodreporter). "Es wird ja mal wieder Zeit für Estland, irgend etwas zu gewinnen!" meinte Aet Laigu fröhlich in Bremen. So sind sie, die Estinnen. Ein Stück Elsa wahrscheinlich innen drin, aber sprudelnd kreativ auf dem Weg in die Zukunft.

Der Film ist in dieser Woche noch bis Sonntag im Rahmen der Estnischen Filmabende zu sehen.

Webseite der Produktionsfirma Meteoriit (zum Film, und zu Kadri Kõusaar)
zu Kadri Kõusaar in Korea
Estnische Filmabende EFA05
Trailer zum Film
Twitternews zum Film
Kadri Kõusaar auf Twitter
Facebookseite zum Film

Donnerstag, November 10, 2016

Von Rõivas zu Ratas?


Nach 961 Tagen ging in dieser Woche die Amtszeit des estnischen Regierungschefs Taavi Rõivas zu Ende. Von 91 anwesenden Abgeordneten stimmten 63 für ein  von der Opposition beantragtes Misstrauensvotum, 28 dagegen, Enthaltungen gab es nicht.

bald schon neuer tonangebender
Politiker in Estland? Jüri Ratas,
frisch gewählter Chef der Zentrumspartei
Kaum hatte die oppositionelle Zentrumspartei sich nach jahrelangen Diskussionen vom bisherigen Parteichef Edgar Savisaar verabschiedet und sich für Jüri Ratas als neue Führungsfigur entschieden, gaben die beiden bisherigen Koaltionspartner der Reformpartei, Sozialdemokraten (SDE) aund Pro Patria / Res Publica Union (IRL), ihren Ausstieg aus der bisherigen Zusammenarbeit mit der Reformpartei bekannt - es lag nur ein Wochenende dazwischen. Und nicht nur das: eilig fügten beide hinzu, man sei offen für Gespräche mit der Zentrumspartei. Jevgeni Ossinovski, Vorsitzender der SDE, sprach sich offen für Jüri Ratas als möglichen neuen Regierungshef aus - und legte Rõivas den Rücktritt nahe."Regierungsarbeit ist Teamarbeit, und wenn es kein gegenseitiges Vertrauen mehr gibt in diesem Team, dann ist es nicht möglich weiterzumachen." 17 Jahre lang habe Estland nun schon eine von der Reformpartei diktierte Steuerpolitik ertragen müssen, und auch den sozialen Ungleichheiten im Lande müsse mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. (ERR)

Die neue Galionsfigur der Zentrumspartei versuchte sich bereits mit inhaltlicher Profilierung: die Regierung müsse auch mal notwendige Investitionen mit Krediten finanzieren können, sagte er im Interview (ERR). Mitglied der neuen Parteiführung der Zentrumspartei wurde übrigens auch Raimond Kaljulaid, der Halbbruder der neuen estnischen Präsidentin. Unklar bleibt vorerst, ob die Partei ganz vereint die neuen Perspektiven angeht: Altvater Savisaar hatte sich erst kurz vor der Wahl des Vorsitzenden entschieden, doch nicht mehr zu kandidieren, erschien gar nicht auf dem Parteikongress, und schloss auch einen Parteiaustritt nicht aus.

Auch die beiden kleineres Parteien im Parlament, die "Freiheitspartei" (Eesti Vabaerakond EVA) und die rechtskonservative Konservative Volkspartei (Eesti Konservatiivne Rahvaerakond EKRE) hoffen nun auf eine Regierungsbeteiliigung. Da ist es offenbar kein Hindernis, dass beide eher dem rechten Lager zugerechnet werden: Ratas hat beide bereits zu Gesprächen empfangen und EKRE als "vertrauensvoller Partner aus der Zeit der Oppositionsarbeit" bezeichnet (ERR).Ob auch die Sozialdemokraten einer so breiten Koalition zustimmen werden, scheint allerdings unsicher.

Was passiert nun weiter? Laut estnischen Recht hat die Präsidentin nun 14 Tage Zeit, in Gesprächen mit den Parteien einen neuen Kandidaten / eine Kandidatin für das Amt des Regierungschefs zu finden. Ein benannter Kandidat oder eine Kandidatin hat dann wiederum 14 Tage Zeit, im Parlament eine Mehrheit für seine Regierung zu finden. Danach hätte ein neuer Regierungschef noch eine weitere Woche Zeit, um auch die einzelnen Regierungsmitglieder im Parlament bestätigen zu lassen. Die Präsidentin hätte aber auch die Möglichkeit, außerordentliche Parlamentswahlen anzusetzen.

Samstag, November 05, 2016

Sturm im Museumsglas

Am 1.Oktober war Museums-Eröffnungstag
Vor einigen Jahren noch, als deutschsprachiges Wissen über ein Land wie Estland nicht besonders geläufig war - Deutsche registrierten überrascht, dass an der östlichen Ostsee mehr war als nur Sowjetrussland - damals galt noch der einfache Leitsatz: Litauen ist katholisch, Lettland und Estland protestantisch. Wer so etwas schrieb, hatte vielleicht die Jahrhunderte im Zeitraffer vor Augen: gewaltsame Missionierung durch den Deutschen Orden (Schwertbrüderorden) ab dem 13. Jahrhundert, Reformation und Gegenreformation. Als Martin Luther vor 500 Jahren seine Thesen verkündete, gelangte seine Lehre sehr schnell auch nach Livland und Estland und verbreitete sich rasch. Andreas Knöpgen war einer der ersten welche sie verkündeten, und ein 1530 in Riga erschienenes Gesangbuch enthielt bereits 22 Lutherlieder, darunter "eine feste Burg ist unser Gott". Im Sommer 1524 wird durch den Rat der Stadt Dorpat (heutiges Tartu) Hermann Marsow, der in Wittenberg studiert hat, als Prediger an der Pfarrkirche zu St. Marien berufen. Marsow war der erste akademische Hörer Luthers, der in Livland wirkte. Durch die altkirchliche Obrigkeit vorübergehend vertrieben, wich er zunächst nach Reval (heute. Tallinn) aus, kam später aber wieder zurück nach Dorpat.

Die mit dem Schwert missionierenden Ordensleute hatten Altlivland, also das nördliche Lettland und Estland, der Gottesmutter Maria weihen lassen - Estland galt als "Marienland". Im 16. Jahrhundert gab es auch in Estland "Bilderstürme", als Kirchenplünderungen und andere Ausschreitungen. Die deutsche Oberschicht aber, die ja in all diesen Zeiten ihre gehobene Stellung nie verlor, sah es im Rückblick etwa so: durch die Reformation konnte erneuerte christliche Botschaft den zwei "anvertrauten Völkern", den Letten und Esten, erneut verständlich und glaubhaft gemacht werden - deutsche Pastoren halfen die Machtverhältnisse zu stabilisieren. Nun wurde auch in Estnisch gepredigt.

Das Estland von heute ist jedoch, rein statistisch nach der Zahl der eingetragenen Kirchenmitglieder betrachtet, ziemlich laizistisch strukturiert: Staat und Religion sind streng getrennt, die Zahl der Mitglieder der Estnisch-Evangelisch-Lutherischen Gemeinde ist auf etwa 108.000 gesunken (10 % der Bevölkerung). Dahinter folgen noch die Mitglieder der orthodoxen Kirchen (13%), der Römisch-Katholischen Kirche (0,5%) und der Baptisten (0,5%), Juden und Muslime (je 0,1%).

Somit ist auch eine Schlagzeile des Deutschlandradio Kultur nicht verwunderlich, wo noch vor wenigen Wochen ein Bericht überschrieben war mit dem Satz: "Gottlos glücklich in Estland". Dort steht allerdings auch, Zitat: "Eine Umfrage von 2005 ergab allerdings, dass nur 16 Prozent der Esten an einen Gott glauben, aber mehr als Hälfte, nämlich 54 Prozent, an irgendeinen 'Geist' oder an eine überirdische 'Macht'."

An welche Geister die Erbauer des neuen Nationalmuseums Estlands (Eesti Rahva Muuseum ERM) in Tartu glauben, ist nicht überliefert. Auf 6.000m2 möchte Estland seine Eigenarten und sein Selbstverständnis darstellen. Doch kaum hatte das Museum am 1.Oktober seine Tore geöffnet - nicht einmal die englischsprachigen Besucherinfos waren fertig - hatte das neue Haus auch schon seinen ersten "Skandal".

Fürs durchdigitalisierte Estland eigentlich logisch, dass auch das Nationalmuseum digitale Kunstwerke präsentiert. Eines davon zeigt das digital erzeugte Abbild einer Marienfigur, interaktiv: mittels eines in Fußhöhe angebrachten Pedals können Besucher das Hologramm einstürzen lassen, und es erscheint das Wort: "Reformatsioon". Ein perfekte, moderne Zusammenfassung der estnisch-lutheranischen Haltung zum Zustand der Welt?

Nein! sagte bereits am Tag nach der Eröffnung der Erzbischof der estnischen lutheranischen Kirche, Urmas Viilma. Und er sagte es "estonian-like": per Facebook. "Es gibt eine Menge zu sehen im neuen Museum", so Viilma, "aber eines dieser Kunstwerke hat mich doch verärgert. Die Besucher zu animieren, per Fußtritt ein Marienbild zu zerstören, das könnte sicherlich beliebt werden bei ganzen Schulklassen, die sich hier betätigen wollen. Aber was würden Estinnen und Esten sagen, wenn hier etwa die Steinbrücke von Tartu in die Luft fliegen würde, oder virtuell Feuer gelegt würde an Häusern der Altstadt von Tallinn?" (ERR). Viilma stellte auch die pädagogischen Sinn in Frage, wenn hierbei religiöse Gefühle von anderen verletzt würden. Für manche sei eben die heilige Maria nicht einfach eine historische Figur, sondern ganz real präsent in ihrem heutigen Leben.

Andere Kritiker äusserten sich auch kritisch gegenüber der hier gewählten Art, die heilige Maria darzustellen - es sei eher den Marienerscheinung des 19. Jahrhundert nachempfunden, wie sie von Catherine Labouré beschrieben wurden, also sei in diesem Fall der Bezug zu Luther und zur Reformation einfach falsch. Etliche radikalchristliche Vereinigungen meldeten sich zu Wort, und gingen teilweise sogar so weit, das Kunstwerk als Aufforderung zur Gewaltanwendung nicht nur gegen die heilige Maria, sondern gegen Frauen generell sehen zu wollen.

Eine Diskussion über Gott und Maria, in Estland? Nur wenige meinen, es nutze lediglich in erster Linie einer kostenlosen Werbung für das neue Museum. Das Thema hat inzwischen auch das deutschsprachige katholisch geprägte Internet erreicht. Auf "Katholisch.de" bezeichnet ein Pater Wrembeck den Vorgang als "Schändung des Marienkunstwerkes", gibt aber gleichzeitig zu, die Reaktionen in der estnischen Bevölkerung hätten sich weniger auf die religiösen Aspekte bezogen, sondern eher auf den allgemeinen Verlust an Kultur und Kulturverständnis. Er weist auch darauf hin, dass die estnischen Lutheraner eben nicht immer automatisch die einflussreichste religiöse Gruppierung in Estland sind, sondern eher die orthodoxe Kirche - und auch Anhänger dieser Glaubensrichtung könnten sich beleidigt fühlen. Lutheraner seien aber meist nur noch alte Leute in Estland, meint Wrembeck beiläufig, gibt aber auch zu, dass der estnische Katholizismus ein "eher konservativer Katholizismus" sei (der katholische Bischof ist Mitglied bei Opus Dei,
die ja auch in Deutschland schon viele kritische Anmerkungen auslöste, siehe z.b. DIE ZEIT). Pater Wrembeck sieht Estland eher beherrscht vom Naturglauben: "Statt von Engeln ist die Rede von Elfen und Waldgeistern."

Nun ja, solange die Diskussion von radikalen Extremisten bestimmt wird, werden wohl auch die meisten Estinnen und Esten skeptisch gegenüber den Kirchenvätern und den von ihnen festgelegten Dogmen bleiben. Radikalchristen wie Varro Vooglaid und der von ihm gegründeten estnischen "Stiftung für Familie und Tradition" versuchten die öffentliche Diskussion in ihren Sinne zu nutzen - also zusammen mit der heiligen Marie gleich mal die inzwischen erreichte estnische Offenheit gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anzugreifen (zu dieser Diskussion siehe auch: Human Right Centre Estonia).

Das neue estnische Nationalmuseum ERM jedenfalls hatte im ersten Monat seines Bestehens 32.577 Besucherinnen und Besucher, sicher keine schlechte Zahl. Und es war in aller Munde. Das beanstandete Ausstellungsstück wurde inzwischen leicht verändert: jetzt können die Besucher nicht mehr das Zerfallen des Marienbildes auslösen, eben auch nicht mehr "Maria mit dem Fuß treten": der Zerfall des Hologramms geschieht nunmehr automatisch, wie eine Art ewiger Kreislauf, allein durch die digitale Programmierung gesteuert. Ob so etwas Martin Luther freuen würde: eine automatische Reformation?

Eesti Rahva Muuseum
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