|
Am 1.Oktober war Museums-Eröffnungstag |
Vor einigen Jahren noch, als deutschsprachiges Wissen über ein Land wie Estland nicht besonders geläufig war - Deutsche registrierten überrascht, dass an der östlichen Ostsee mehr war als nur Sowjetrussland - damals galt noch der einfache Leitsatz: Litauen ist katholisch, Lettland und Estland protestantisch. Wer so etwas schrieb, hatte vielleicht die Jahrhunderte im Zeitraffer vor Augen: gewaltsame Missionierung durch den Deutschen Orden (Schwertbrüderorden) ab dem 13. Jahrhundert, Reformation und Gegenreformation. Als Martin Luther vor 500 Jahren seine Thesen verkündete, gelangte seine Lehre sehr schnell auch nach Livland und Estland und verbreitete sich rasch.
Andreas Knöpgen war einer der ersten welche sie verkündeten, und ein 1530 in Riga erschienenes Gesangbuch enthielt bereits 22 Lutherlieder, darunter "eine feste Burg ist unser Gott". Im Sommer 1524 wird durch den Rat der Stadt Dorpat (heutiges Tartu)
Hermann Marsow, der in Wittenberg studiert hat, als Prediger an der Pfarrkirche zu St. Marien berufen. Marsow war der erste akademische Hörer Luthers, der in Livland wirkte. Durch die altkirchliche Obrigkeit vorübergehend vertrieben, wich er zunächst nach Reval (heute. Tallinn) aus, kam später aber wieder zurück nach Dorpat.
Die mit dem Schwert missionierenden Ordensleute hatten Altlivland, also das nördliche Lettland und Estland, der Gottesmutter Maria weihen lassen - Estland galt als "Marienland". Im 16. Jahrhundert gab es auch in Estland "Bilderstürme", als Kirchenplünderungen und andere Ausschreitungen. Die deutsche Oberschicht aber, die ja in all diesen Zeiten ihre gehobene Stellung nie verlor, sah es im Rückblick etwa so: durch die Reformation konnte erneuerte christliche Botschaft den zwei "anvertrauten Völkern", den Letten und Esten, erneut verständlich und glaubhaft gemacht werden - deutsche Pastoren halfen die Machtverhältnisse zu stabilisieren. Nun wurde auch in Estnisch gepredigt.
Das Estland von heute ist jedoch, rein statistisch nach der Zahl der eingetragenen Kirchenmitglieder betrachtet, ziemlich
laizistisch strukturiert: Staat und Religion sind streng getrennt, die Zahl der Mitglieder der Estnisch-Evangelisch-Lutherischen Gemeinde ist auf etwa 108.000 gesunken (10 % der Bevölkerung). Dahinter folgen noch die Mitglieder der orthodoxen Kirchen (13%), der Römisch-Katholischen Kirche (0,5%) und der Baptisten (0,5%), Juden und Muslime (je 0,1%).
Somit ist auch eine Schlagzeile des
Deutschlandradio Kultur nicht verwunderlich, wo noch vor wenigen Wochen ein Bericht überschrieben war mit dem Satz: "Gottlos glücklich in Estland". Dort steht allerdings auch, Zitat: "Eine Umfrage von 2005 ergab allerdings, dass nur 16 Prozent der Esten an einen Gott glauben, aber mehr als Hälfte, nämlich 54 Prozent, an irgendeinen 'Geist' oder an eine überirdische 'Macht'."
An welche Geister die Erbauer des neuen
Nationalmuseums Estlands (Eesti Rahva Muuseum ERM) in Tartu glauben, ist nicht überliefert. Auf 6.000m2 möchte Estland seine Eigenarten und sein Selbstverständnis darstellen. Doch kaum hatte das Museum am 1.Oktober seine Tore geöffnet - nicht einmal die englischsprachigen Besucherinfos waren fertig - hatte das neue Haus auch schon seinen ersten "Skandal".
Fürs durchdigitalisierte Estland eigentlich logisch, dass auch das Nationalmuseum digitale Kunstwerke präsentiert. Eines davon zeigt das digital erzeugte Abbild einer Marienfigur, interaktiv: mittels eines in Fußhöhe angebrachten Pedals können Besucher das Hologramm einstürzen lassen, und es erscheint das Wort: "Reformatsioon". Ein perfekte, moderne Zusammenfassung der estnisch-lutheranischen Haltung zum Zustand der Welt?
Nein! sagte bereits am Tag nach der Eröffnung der Erzbischof der estnischen lutheranischen Kirche, Urmas Viilma. Und er sagte es "estonian-like": per Facebook. "Es gibt eine Menge zu sehen im neuen Museum", so Viilma, "aber eines dieser Kunstwerke hat mich doch verärgert. Die Besucher zu animieren, per Fußtritt ein Marienbild zu zerstören, das könnte sicherlich beliebt werden bei ganzen Schulklassen, die sich hier betätigen wollen. Aber was würden Estinnen und Esten sagen, wenn hier etwa die Steinbrücke von Tartu in die Luft fliegen würde, oder virtuell Feuer gelegt würde an Häusern der Altstadt von Tallinn?" (
ERR). Viilma stellte auch die pädagogischen Sinn in Frage, wenn hierbei religiöse Gefühle von anderen verletzt würden. Für manche sei eben die heilige Maria nicht einfach eine historische Figur, sondern ganz real präsent in ihrem heutigen Leben.
Andere Kritiker äusserten sich auch kritisch gegenüber der hier gewählten Art, die heilige Maria darzustellen - es sei eher den Marienerscheinung des 19. Jahrhundert nachempfunden, wie sie von Catherine Labouré beschrieben wurden, also sei in diesem Fall der Bezug zu Luther und zur Reformation einfach falsch. Etliche radikalchristliche Vereinigungen meldeten sich zu Wort, und gingen teilweise sogar so weit, das Kunstwerk als Aufforderung zur Gewaltanwendung nicht nur gegen die heilige Maria, sondern gegen Frauen generell sehen zu wollen.
Eine Diskussion über Gott und Maria, in Estland? Nur wenige meinen, es nutze lediglich in erster Linie einer kostenlosen Werbung für das neue Museum. Das Thema hat inzwischen auch das deutschsprachige katholisch geprägte Internet erreicht. Auf "
Katholisch.de" bezeichnet ein Pater Wrembeck den Vorgang als "Schändung des Marienkunstwerkes", gibt aber gleichzeitig zu, die Reaktionen in der estnischen Bevölkerung hätten sich weniger auf die religiösen Aspekte bezogen, sondern eher auf den allgemeinen Verlust an Kultur und Kulturverständnis. Er weist auch darauf hin, dass die estnischen Lutheraner eben nicht immer automatisch die einflussreichste religiöse Gruppierung in Estland sind, sondern eher die orthodoxe Kirche - und auch Anhänger dieser Glaubensrichtung könnten sich beleidigt fühlen. Lutheraner seien aber meist nur noch alte Leute in Estland, meint Wrembeck beiläufig, gibt aber auch zu, dass der estnische Katholizismus ein "eher konservativer Katholizismus" sei (der katholische Bischof ist Mitglied bei
Opus Dei,
die ja auch in Deutschland schon viele kritische Anmerkungen auslöste, siehe z.b.
DIE ZEIT). Pater Wrembeck sieht Estland eher beherrscht vom Naturglauben: "Statt von Engeln ist die Rede von Elfen und Waldgeistern."
Nun ja, solange die Diskussion von radikalen Extremisten bestimmt wird, werden wohl auch die meisten Estinnen und Esten skeptisch gegenüber den Kirchenvätern und den von ihnen festgelegten Dogmen bleiben. Radikalchristen wie
Varro Vooglaid und der von ihm gegründeten estnischen "Stiftung für Familie und Tradition" versuchten die öffentliche Diskussion in ihren Sinne zu nutzen - also zusammen mit der heiligen Marie gleich mal die inzwischen erreichte estnische Offenheit gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anzugreifen (zu dieser Diskussion siehe auch:
Human Right Centre Estonia).
Das neue estnische Nationalmuseum ERM jedenfalls hatte im ersten Monat seines Bestehens 32.577 Besucherinnen und Besucher, sicher keine schlechte Zahl. Und es war in aller Munde. Das beanstandete Ausstellungsstück wurde inzwischen leicht verändert: jetzt können die Besucher nicht mehr das Zerfallen des Marienbildes auslösen, eben auch nicht mehr "Maria mit dem Fuß treten": der Zerfall des Hologramms geschieht nunmehr automatisch, wie eine Art ewiger Kreislauf, allein durch die digitale Programmierung gesteuert. Ob so etwas Martin Luther freuen würde: eine automatische Reformation?
Eesti Rahva Muuseum
auf
Facebook
im
Internet
Werbeclip1 ---
Werbeclip2 (estn./engl.) ---
Youtubekanal des Museums