Bekannt schwierige Ländersituationen im Bild: hier ist es ein US-Offizier in Afghanistan (Foto: Richard Mosse / INSTITUTE) |
Was aber verbinden wir zu diesem Thema mit Estland? Gab es Schlagzeilen dieser Art im vergangenen Jahr? Wurden estnische Journalisten mit Strafen belegt, wenn sie sich kritisch über bestimmte Politiker äußerten? Oder darf über die Lage der russischen Minderheit so berichtet werden, dass es auch mal ohne die gleichzeitige Rechtfertigung der Regierungspolitik geht? Vielen wird vielleicht beim Gedanken in diese Richtung gleich der hitzige Denkmalstreit des Jahres 2007 einfallen. Und auch 2010 gab es mal leere Titelseiten bei einigen Zeitungen, als estnische Journalisten wegen einer anstehenden Gesetzesänderung um den Informantenschutz fürchteten (siehe Süddeutsche Zeitung 6.4.10, Euronews, Transparency International). "Eurotopics" berichtete im gleichen Jahr von hoher Pressekonzentration und Befürchtungen, die Medien könnten zu sehr nach den Interessen ihrer Besitzer ausgerichtet sein, und auf der anderen Seite Russischsprachige vom russischen Staatsfernsehen gegen den estnischen Staats instrumentalisiert werden könnten. 2007 überraschte der estnische Ex-Kulturminister Raivo Palmaru in einem Interview bei "Cafe Babel" noch. "In den Medien Estlands sind Verleumdungen, Verletzungen des Urheberrechts und Beleidigungen so normal wie der Wetterbericht." Damit nicht genug, Palmaru fügte hinzu: "Esten sind wie Kellerasseln im Tageslicht." Und die Ex-Exil-Estin Aino Siebert sieht vornehmlich sich selbst im Kreuzfeuer der Kritik: ob als Aufklärerin von KGB-Verbindungen in der eigenen Familie, oder im Kampf mit zugeknöpften Behörden.
Haben wir da etwas verpasst? Die Estnisch- und Russisch-Kundigen zumindest werden die Lage besser überblicken können. "Reporter ohne Grenzen" zumindest sagt im Rückblick auf die Lage im Jahr 2011: Estland steht in der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit unter 179 Ländern auf Platz 3 (DREI). Nur in Finnland und Norwegen wird die Lage der Presse noch besser beurteilt. Damit stünde Estland fast noch besser da wie beim großen imagebildenden Thema IT und Internet. "Der Abstand zwischen den baltischen Staaten hat sich vergrößert", so schreibt dieser Bericht im Einzelnen weiter, "Estland rückte weiter an die Spitze der Rangliste vor. Lettland und Litauen fielen wegen einschlägiger Gerichtsurteile und wegen Eingriffen der Sicherheitsbehörden in die journalistische Arbeit auf Platz 30 bzw. 50." (Bericht "Europa und ehemalige Sowjetunion")
Schauen wir mal zurück auf die Entwicklung. Im Jahr 2003 taucht Estland auf Platz 13 auf, noch hinter Lettland. Gleiches gilt für 2004, wo Estland gleichauf mit Deutschland auf Rang 11 rangiert, beide knapp hinter Lettland. 2005 fallen Deutschland und Lettland weit zurück hinter Estland (weiterhin 11). Ein Jahr später rückt Estland auf Platz 6 vor, im meinungs-umkämpften Jahr 2007 sogar auf Platz 3 (Zusammenfassung: gute Noten für viel Diskussion zu umstrittenen Themen?). 2008 rutscht Estland leicht zurück auf 4, Spitze ist nun Island (Krisen als Lackmus-Test für die Presse?). 2009, im tiefesten Jahr der weltweisen Krise, ist Island plötzlich abgesackt auf Platz 9, Estland auf 6. 2010 nimmt Estland nur den 9ten Rang ein, Island ist zurück auf 2 (hinter Finnland).
Aber ob nun diese ganze "Ranglisterei" Estland irgendwie weiterhilft - still ruht der See (im Moment), die kommenden kritischen Auseinandersetzungen werden es zeigen müssen. Der höchste Grad der Mediennutzung in Estland wurde bereits 1989-90 erreicht, schreibt Peeter Vihalemm in einer Untersuchung aus dem Jahr 2006, und fügt hinzu dass Ende der 80er Jahre in Estland über drei Stunden täglich Radio gehört wurde, Mitte der 90er Jahre sogar über 4 Stunden - doppelt so viel wie Stunden vor dem TV. Vielleicht hängt ja das "Endergebnis" von Mediennutzung auch vom "genauen Hinhören" ab, losgelöst von der Option für die Medien, möglichst ungezügelt Wahrheiten möglichst laut herausschreien zu können. Vihalemm weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass auch schon die Menschenkette vom 23.August 1989 (gemeinsames baltisches Gedenken an die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes, Menschenkette von Vilnius bis Tallinn) durch die Medien - und insbesondere durch Mitteilungen im Radio - mit organisiert wurde und strukturiert werden konnte. Heute aber, nochmal Vihalemm zufolge, haben viele Menschen nicht mal das Geld, um eine einzige Zeitung zu abonnieren. Die Printmedien gehen stark zurück. Ein Generationsunterschied sei ebenfalls erkennbar: die Älteren sitzen heute zunehmend vor dem Fernseher, die Jugend online im Internet.