Montag, April 06, 2009

Nachbarschaftliches

Es ist ja in diesem Blog (wie auch im Lettland-Blog) schon mehrfach die Rede davon gewesen, was Nachbarn so übereinander reden. "Baltische Geschwister" sozusagen. Nein, das ein lettischer Botschafter in Estland schon mal mit Alkohol am Steuer erwischt wird, das könnte an dieser Stelle höflich verschwiegen werden. Und auch die estnischen Spottlieder über die lettischen Bankpleiten kennen wir nun schon. Aus Anlaß des Besuchs von Präsident Zatlers in Estland könnten wir mal schauen, ob über Estland in Lettland ähnlich geschrieben wird wie in Deutschland.

Gott schützt nur Lettland?
"Estland, das unreligiöseste Land der Welt!" Das stand am 11.Februar in der lettischen Tageszeitung DIENA zu lesen. Na gut, es waren schlicht die (zitierten) Ergebnisse einer Gallup-Umfrage: nur 14% der befragten Esten antworteten auf die Frage, ob Religion ein wichtiger Teil ihres Alltagslebens darstelle, mit 'Ja'. Damit bildete Estland das Schlußlicht (je nach Sichtweise auch die Spitze) aller befragten Länder. Danach folgten Schweden und Dänemark (17 bzw. 18%), Norwegen (20%) und Tschechien (21%). Lettland folgte zusammen mit einer Gruppe von Ländern, in denen noch der überwiegende Teil eher nichts mit Religion zu tun haben will (prozentual ähnlich wie Großbritannien, Finnland, Niederlande, Bulgarien und - erstaunlich? auch Litauen). Als "am meisten religiös" erwiesen sich hier Griechenland, Italien, Portugal, Rumänien und Polen.
Soweit der "Schwesternvergleich" in DIENA.

Konkurrenten oder Partner?
Heute nun beleuchtet "Latvijas Avize" den Staatsbesuch von Präsident Zatlers beim nördlichen Nachbarn, und befragt den Amtskollegen Tomas Henrik Ilves (durch die beiden Journalisten Viesturs Serdāns un Ģirts Kondrāts). Ob denn nicht Estland und Lettland heute eher Konkurrenten als Partner seien, fragt die lettische Seite, und spiegelt wohl gleichzeitig die typische Einstellung jener Letten, die Estland immer ein Stück voraus glauben. Ganz Diplomat (und Este!) weist Ilves das zurück. Schließlich sei man ja gemeinsam Mitglied in EU und NATO. Einen Wettbewerb macht er allerdings aus zwischen Lettland und Litauen, wer von beiden die Energiebrücke nach Schweden nun bekomme (ebenfalls beliebt: wenn zwei sich vertragen wollen, verweise immer auf Schwester Nr.3!).

Estland sei mehr skandinavisch und weniger baltisch - auch dieses Zitat von Ilves haben sich die lettischen Journalisten offenbar gut gemerkt. Ach, das habe er vor 10 Jahren mal gesagt, gibt Ilves zurück. Das habe vor allem mit dem Suchen nach kultureller Identität zu tun, die in tausenden von Jahren geprägt worden sei. Aber Gemeinsamkeiten zwischen Estland, Lettland und Litauen gebe es ja, mindestens seit der Unabhängigkeit dieser drei Staaten vor 90 Jahren.

Gürtel enger schnallen - und trotzdem überleben
Die es die Esten schaffen, die Finanzkrise zu überstehen, ohne den Rentern, Lehrern und Kindern allzuviel wegzunehmen. Nun, das sei in erster Linie Aufgabe der estnischen Regierung, meint Ilves. Aber immerhin gehe es hier "nur" um einen Aufschub von Renten- und Lohnerhöhungen, nur in geringem Maße um Kürzungen (bei staatlichen Angestellten -8%). Dennoch seien die meisten Esten gegenwärtig nur mit dem Überleben beschäftigt, an "Aufschwung" könne erst später wieder gedacht werden.


Und dann kommt der oberste Este vielleicht auf ein estnisches Lieblingsthema. "Mehr Innovationen in der Wirtschaft", fordert Ilves, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass viele Firmen in der jetzigen Situation viel zu viel Geld in Immobilien gesteckt hätten (was man auch mit dem lettischen Wort "unbewegliches Eigentum" übersetzen und verdeutlichen kann). "Wer gute Schuhe produzieren möchte, und dies auf kluge Weise mit Datenverarbeitung kombiniert, baut eine bessere Zukunft als derjenige, der nur umherreist und irgendwo Häuser verkauft," so Ilves. Nicht "schnelles Geld", sondern frische Ideen seien erforderlich.
Auch der Präsident schreckt nicht vor allseits bereits bekannten Schablonen zurück. 'Skype' sei von Esten erfunden worden, inzwischen sei der Sitz der Eigentüberfirma in Luxenburg. Aber der Eindruck sei geblieben, dass auch "arme Esten" etwas derart Innovatives erfinden könnten. "Das ist besser als von den Bauern die Wiesen zu kaufen und Immobilienprojekte darauf zu setzen!"

Da riskiert der Präsident natürlich die Rückfrage der interessierten lettischen Interviewer, ob er denn selbst 'Skype' nutze. Er habe es ausprobiert, gibt Ilves zu, warte aber derzeit auf noch bessere Wege der Kommunikation (und gebe sich einstweilen mit einem "Iphone" zufrieden).

Estland und Europa - möglichst ohne rosarote Brillen
Was zu tun bleibe, fragen die 2 Zeitungsletten weiter, wo Estland wie Lettland doch jahrelang darauf hingearbeitet hätten, wieder in die "Eurozone" zurückzugelangen, dies aber nun doch seit 5 Jahren bereits erreicht sei? Erstmal die Freiheit wiederzuerlangen, sei natürlich 1990 das Wichtigste gewesen, antwortet Ilves. Heute aber stehe man den "Maastricht-Kriterien" der EU gegenüber, und die alle zu erfüllen, sei eine wirkliche Herausforderung.

Zum Schluß noch eine interessante These von Ilves, auch gegenüber dem Nachbarn Lettland. Beim Rückblick auf die eigene Geschichte sei Opfern auf allen Seiten zu gedenken, mahnt der estnische Präsident. "So wie die Spanier wissen wollen, was in den 30er Jahren geschah, die Franzosen was in den 40er Jahren geschah, die Deutschen ebenfalls ihre Vergangenheit aufarbeiten - so müssen auch wir es tun, damit ähnliche Dinge wie damals sich nicht wiederholen." Das alles sei nicht nur eine Frage für die Gerichte, so Ilves, denn viele der Schuldigen seien ja bereits gestorben. Aber genauso wie es um die Verbrechen von Sowjets, von Militärs, von Geheimdienstlern oder Kommunisten gehe, dürfe man auch vor dem genauen Blick auf diejenigen Esten nicht zurückschrecken, die mit Verbrechen in Zusammenhang zu bringen seien.
Ein interessanter estnischer Schriftzug ins lettische Stammbuch.

1 Kommentar:

  1. Ich finde immer amüsant, daß die Letten Witze über die angebliche Langsamkeit der Esten reißen. Das steht erstens im krassen Widerspruch zu den oftmals neidvollen Blicken auf den vorgeblich und / oder tasächlich erfolgreicheren Nachbarn im Norden. Gewiß ist, daß die Esten entschieden schneller sprechen, sogar schneller als die deutschen Schnellschwätzer wie die Schwaben Nord-Weißwurstäquatorianer nennen gerne nennen. Genährt wird dieses Vorurteil natürlich durch Witze, welche die Esten über sich selbst, etwa die Mundfaulheit betreffend machen. Auch in einem Reiseführer habe ich mal gelesen, man solle sich nicht wundern, wenn ein Este mit einem den ganzen Tag kein Wort wechsele und dann am Abend zum Essen einlade. Ich habe oft genug gesehen, wie estnische Jugendliche bei einem Konzert auf Tischen und Bänken tanzen.

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