Sonntag, August 24, 2008

Fantasievoll für den Frieden

Estland ist ein fantasievolles Land. Hier wurde Skype erfunden, Genom-Projekte, E-Straßenschilder, der Buchstabe õ, und kostenlose Internetportale fürs Volk. Sicher einiges mehr. Dass die Esten dabei zwar manchmal wortkarg, aber doch sehr beharrlich auf ihre Eigenständigkeit pochen, ihre Sitten und ihre eigene Sprache pflegen, dürfte inzwischen bekannt sein. Auch wenn die eigenen Politiker und Repräsentanten in ihren Entscheidungen nicht immer das beste Bild abgeben (siehe kurzfristiger Umzug von Denkmälern), dann schweißt das die Esten doch offenbar noch mehr zusammen, und erstaunlicherweise zeigen die estnischen Imagekamgnen - verglichen mit denen ihrer südlicheren baltischen Nachbarn - ganz wirkungsvolle Effekte rund um die Welt.

Haben sich nun die Fragestellungen geändert?
Der bewaffnete Konflikt in Georgien scheint wie ein Katalysator zu wirken auf eine Neupositionierung der Kräfte Osteuropas, das heisst zwischen
Berlin und Moskau, zwischen Helsinki und Sarajewo. Voraussehbar oder nicht (einige bauen eben auf eine Verschärfung von Konflikten, auch wenn das manchmal aus Sicht der allgemeinen Menschlichkeit schwer vorstellbar ist). Könnte sein, dass Esten auch stur, engstirnig und so gar nicht weltläufig wirken, wenn sie sich um ihresgleichen scharen dort, wo sie leben.

Bedeutet die hervorgehoben klare Positionierung Estlands, zusammen mit Polen, Litauen, Lettland, an der Seite Georgiens auch eine innenpolitische Umorientierung? Jahrelang wurde immer von der "Brückenfunktion zu Russland" geredet. Inbegriffen alles, was den Esten an Integrationsaufgaben verschiedener Volksgruppen alles aufgebürdet wurde - mit hohen Ansprüchen an die internationale Rechtslage natürlich. Diese Positionen scheinen nun eingerissen zu sein - und zwar von beiden Seiten.
Es kann nicht so ganz beruhigen, wenn sich allgemein an Waffengewalt berauscht wird. Was wäre denn gewesen, wenn Präsident Saakaschwili seinen "internen Konflikt" in Südossetien einfach mit Waffengewalt hätte durchziehen können? Hätte jemand Beobachter gesch
ickt, die Toten gezählt, Beschwerden geschrieben, Botschafter abgezogen? Die Solidarisierung mit Georgien baut ja wohl völlig auf einer Frontstellung gegenüber Russland auf - und auf der Hoffnung auf eine internationale Solidarisierung. Diese Frontstellung gegenüber Russland ist dabei, halb Europa zu ergreifen, und muss ein kleines Land, dass direkt an der Grenze liegt, ja wohl auch erfassen. Auch wenn - oder gerade weil - noch so viele Raketen oder andere Waffen irgendwo stationiert sind.

Was soll die Welt von Estland lernen?
Es gibt ja die Auffassung, gerade bezüglich dem Umgang mit Russland müsse der Westen noch viel von den neuen, östlichen EU-M
itgliedsstaaten lernen. In punkto der estnischen Georgienbegeisterung (wer anders denkt, möge sich zu Wort melden!) bin ich mir da momentan nicht so sicher.

Auffällig ist jedoch die große Kampagnentauglichkeit mancher Ideen und Projekte auf estnischer Seite. Neben allen Auseinandersetzungen, ob nun estnische Kriegsfreiwillige nach Georgien reisen, oder um die Effektivität oder monetäre Höhe der estnischen humanitären Hilfe in Georgien gibt es immer wieder Schlagzeilen, die trotz des ernsten Themas schmunzeln lassen. Noch während der in Georgien aufgeflammten kriegerischen Auseinandersetzungen gab es Berichte, dass der Verkauf von georgischem Wein sich in Estland teilweise verdoppelt habe (speziell die Marke "Alt-Tbilisi"). Die Esten wollten damit ihre Unterstützung für Georgien ausdrücken, so berichteten einige Medien (im Unterschied zu Litauen und Lettland übrigens, aber die Letten zogen, offenbar animiert durch entsprechende Medienberichte, eine Woche später nach - siehe "Baltic Course").

Solidarische Trinker
Das Thema "georgischer Wein" geht übrigens noch weiter: die zwei britischen Journalisten
Matthew Lynn and Hugh Fraser beschreiben in ihrem Blog, es sei "schwierig, Georgien zu besuchen, und nicht diesen wundervollen Wein zu trinken". Auch das Raketenstationierungsabkommen zwischen Polen und den USA sei zwischen den beiden Außenministern Rice und Sikorski mit georgischem Wein begossen worden (Zitat aus "The Independent"). Es zieht sich also durch, das solidarische Weintrinken (und was wird wohl Kanzlerin Merkel bei ihrem Estland-Besuch morgen von Präsident Ilves kredenzt bekommen?). Keine Angst, Antialkoholiker können auch solidarisches Mineralwasser aus der Region Borjomi trinken.

Russland hatte die Einfuhr von Weinen auch schon mal verboten, weil diese angeblich "gesundheitsschädlich" seien. Aber damit waren wohl eher die illegal gepanschten Waren gemeint.
(Foto: aus der Borjomi-Werbung)
Den Esten das Singen verbieten?
Warum sollte die Wirksamkeit von konsumorientierten Aktivitäten von Estland gegen Russland eigentlich wirksamer sein als umgekehrt? Aber vielleicht kommt zumindest den Esten ihre Ausgangslage schon allzu alltäglich und gewohnt vor: die Energiepreise steigen, die Öl-Transportwege werden an ihnen vorbeigeführt, nach Osten hin ist die Grenze im Brüsseler Auftrag abzuschotten, und von Landesfläche und Einwohnerzahl her haben Esten in der Welt allein sowieso nichts auszurichten (ähnlich dem in Deutschland früher so bekanntem Spruch: "was kümmert mich, ob in China ein Sack Reis umfällt"). Nun kommt noch mit der Wirtschaftsflaute die offenbare Abhängigkeit von erstens den US-Banken und zweitens dem Weltmarkt zutage.
Was kann man tun? Estnisches Public Relation geht in die Offensive. Nun will Kulturministerin Laine Jänes ihren Landsleuten das Singen verbieten.

Nein, Mundtücher werden die Esten nicht tragen müssen. Seit der Ausrichtung des Grand Prix d'Eurovision im Jahre 2002 in Tallinn wissen sie, was ein gutes Kulturmanagement ausmacht - auch und vor allem für die Imagewerbung (für Bremer: gleichzeitig war es das Debakel von Corinna May). Die Ausrichtung der Eurovision hat damals Estland ganz sicher auf dem Weg in die Europäische Union geholfen. Also: wenn wir uns doch von der gegenwärtigen Politik Russlands bedroht fühlen (um das mal von den Beziehungen zwischen den Menschen zu unterscheiden), dann fokussieren wir uns doch mal auf diejenigen Events, die speziell für Wirtschaft und Imagewerbung gemacht sind. Olympia in Sotschi wäre das eine - aber noch zu weit weg. Schon im Mai 2009 richtet Russland den Schlagerwettbewerb der Eurovision aus. Dies könnte ja eine reine Propagandaschow Russlands werden, beeilen sich die Esten nun zu verbreiten, und kündigen die Möglichkeit an, Estland könne dem Event fernbleiben.

Die Meldung geht offenbar schnell rund um die Welt. Nur kurze Zeit später reagieren Medien in
Finnland, Belgien, Rumänien, Aserbaidshan, Österreich, Deutschland (um nur ein paar Beispiele zu nennen) und natürlich Estland selbst - um nur einige zu nennen. Ein "Boykott" sei das aber nicht, lassen sich zwei der Initiatoren - Kulturministerin Jänes und Radio- und Fernsehchef Allikmaa sorgfältig zitieren, lediglich eine "Haltungsdemonstration".

Während einige salopp sagen "na gut, endlich hat dieses Trällern mittelmäßiger Lieder ein Ende", ist die Eurovisions-Fangemeinde naturgemäßg keinesfalls begeistert. Ob es denn richtig sei, gerade die Künstler zu bestrafen, so werden etwa bei ESCTODAY zurückhaltendere Äußerungen zitiert. Auch auf den Unterschied zwischen Eurovision und Olympia wird hingewiesen: während bei Olympia die Vergabe von politischen Entscheidungen abhänge, erwirbt bei der Eurovision ja nur der Sieger des vorangegangenen Wettbewerbs für sein Land die Austragungsrechte (ebenfalls Zitat Jänes).

Kultur + Politik = Kulturpolitik?

Beistand wird gesucht und gefunden vom schon in der Sowjetzeit äußerst erfolgreichen Komponist Raimonds Pauls aus dem Nachbarland Lettland (einige auf estnischer Seite wünschen sich einen gemeinsamen Boykott aller drei baltischer Staaten). Pauls erklärt eine derartige Reaktion erstens für verfrüht und erklärt zweitens sein Mißfallen gegenüber einer Vermischung von Kultur und Politik.

Tja, aber ist nicht auch sonst das Einsetzen von Kulturschaffenden für politische Zwecke gang und gäbe? Da müssen Jongleure und Feuerschlucker auch schon mal Atomkraftwerke eröffnen, Tänzer und Musikanten bei dutzenden politischen Anlässen den Rahmen garnieren, und gerade in diesem Jahr bemüht sich Deutschland mit deutsch-estnischen Kulturveranstaltungen darum, ein allzu verschrödertes Image wieder aufzupolieren.

Jedenfalls: nun diskutieren auch die Schlagerfans über Georgien, Süd-Ossetien und Abchasien (siehe ESCTODAY, oder auch OIKOTIMES). Zu hoffen bleibt eigentlich, dass all diese fantasievollen Aktionen letztendlich nur einem Ziel dienen: der Erhaltung des Friedens. Die Menschen in Russland, oder gar diejenigen russischer Abstammung oder Sprache in Estland hätten anderes sicher nicht verdient.

2 Kommentare:

  1. Hallo Albatros,

    sehr guter Artikel. Ich möchte nur 2 Dinge hinzufügen:

    - Die Brückenfunktion zu Russland war Sand in die Augen der Alt-EU und der NATO. Sobald die baltischen Staaten den beiden Organisationen beigetreten sind, haben sie selbst Vermittler gegenüber Russland gebraucht.

    - Solange Estland russische Energieträger verwendet, sind sämtliche Aktionen gegen Russland bestenfalls Heuchelei, schlimmstenfalls schlicht gefährlich. Wenn Estland wirklich Russland treffen möchte, dann sollte nach der IT-Revolution die Grüne Revolution folgen, also vollständiger Verzicht auf importierte Energieträger. Also kein Hummer, sondern Elektro-Autos nach dem Vorbild Dänemarks, Windkraftparks vor der Küste, Biogas aus landwirtschaftlichen Abfällen, Geothermie.... Der Verzicht Estlands alleine macht noch für Russland nichts aus, aber die Vorbildfunktion für andere Länder dürfte gewaltig sein. Dann muss sich Gasprom umschauen, wo er sein Gas loswird.

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  2. Dem zweiten Teil kann ich kloty nur beipflichten.

    Estland braucht dringend Alternativen, wenn es auf Geschäftspotential mit Russland verzichten will - und was erschwerend hinzu kommt, beim derzeitigem Verhalten Russlands wohl auch auf absehbare Zeit verzichten muss.

    Meiner Meinung nach können die Alternativen derzeit nur von innen heraus kommen, durch neue Innovationen und dessen intelligente Vermarktung für den Export, welches zum einem eine hierfür notwendige Infrastruktur und ein kompetentes Mangagement in solchen Unternehmen voraussetzen.

    An Beidem mangelt es derzeit noch in Estland, aber ich bin zuversichtlich, dass mit der derzeitigen Marktbereinigung endlich Qualität und Produktivität vor Quantität und Semiprofessionalität gestellt wird.

    Knut

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