Donnerstag, November 07, 2024

Oben ohne

Es gibt ja manchmal eine Diskussion darüber, wie dieses in Estland und den baltischen Nachbarn beliebte und bekannte Verkehrsmittel deutsch übersetzt werden sollte: Oberleitungs-Bus, O-Bus, oder doch lieber Trolleybus? Als im Juli 1965 in Tallinn der Betrieb von elektrisch betriebenen Bussen samt Oberleitungen eröffnet wurde, gab es sie in Vilnius (seit 1956) und Riga (seit 1947) schon lange. (tlt)

Wer jemals in überfüllten Trolleybussen unterwegs war, den wird vielleicht auch nicht verwundern, dass die Betreibergesellschaft "Tallinna Linnatransport TLT" ganz offiziell 8 Passagiere Aufnahmekapazität pro Quadratmeter Busfläche berechnete. Reisebuchautor Klaus Schameitat ist offenbar ein Fan der Tallinner Oberleitungs-Gefährte, denn er hat eine umfangreiche Infoseite dazu, illustriert mit zahlreichen eigenen Fotos, ins Internet gestellt.

Ab jetzt, oder sehr bald: Akutrolle

Ab dem 1. November wurden die 4 bisherigen Trolleybuslinien in Tallinn eingestellt; auf diesen Strecken werden jetzt - vorübergehend, wie es heißt - herkömmliche Busse eingesetzt (err). Dies bedeutete aber nicht die Abschaffung der Trolleybusse, so Bürgermeister Mihhail Kõlvart (tallinn.ee). "Wir wollen ein möglichst breites Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln bereitzustellen, um den Bedürfnissen der Stadtbewohner gerecht zu werden“, so Kõlvart. Ziel sei es, den öffentlichen Nahverkehr bis 2035 emmissionfrei zu betreiben.

Ab 2026 sollen also 40 neue batteriebetriebene Busse auf den bisherigen Linien eingesetzt werden - estnisch "Akutrolle" genannt. (tallinn.ee) Die bisher eingesetzten Fahrzeuge hätten ihre maximale Nutzungsdauer erreicht, 38 ausrangierte Trolleybusse der Marke Solaris Trollino sollen jetzt im Rahmen einer Auktion verkauft werden. Die Gesamtkosten dieses fünf bis sechs Jahre dauernden Umstellungsprojektes werden auf 40 bis 50 Millionen Euro veranschlagt.

Im Stadtzentrum werde nun das unnötig gewordene Oberleitungsnetz abgebaut, während in der Mustamäe- und der Sõprus-Straße eine für die neuen Trolleys geeignete Ladeinfrastruktur gebaut werden soll - die Busse sollen mindestens 25km mit einer Aufladung fahren können.  

Trauer, oder Vorfreude? 

Inzischen gibt es Reaktionen von Trolleybusfans. Videoclips mit der Bezeichnung "Trolleybus auf seiner letzten Fahrt in Tallinn" gibt es gleich mehrere auf den gängigen Portalen (Youtube1 / Youtube2 / instagram) zu finden. Andere schreiben von einer "Trolleybus Renaissance". 

Trolleybus-Oberleitungsnetz in Tallinn
Zu Spitzenzeiten betrieb Tallinn schon einmal neun Linien mit Trolleybussen - einige wurden inzwischen auf reguläre Busse umgestellt.

Ob sich auch die Bezeichnungen für die neuen akkubetriebenen Gefährte in Tallinn ändern wird? Oder wird sich vielleicht die Bezeichnung "Akutrolle" auch im Englischen und Deutschen durchsetzen?

Beim baltischen Nachbar in Vilnius spielen Trolleybusse offenbar auch in Zukunft noch eine größere Rolle als in Tallinn. Gerade erst wurden für Vilnius 73 neue Fahrzeuge angeschafft (siehe auch: Youtube), und am internationalen "Tag ohne Auto" (gelegentlich auch "Mobilitätswoche" genannt) fahren in Vilnius "Retro-Trolleybusse" als Attraktion. Den Vergleich mit Riga hingegen scheut Kaido Padar, Chef von TLT, nicht: immerhin sei der Fahrpreis pro km in der estnischen Hauptstadt rund 30% günstiger als beim lettischen Nachbarn (err).

Freitag, November 01, 2024

10 Minuten gegen die 22

Es gibt Tage, wo niemand danach fragt, ob nun Reformationstag, Halloween oder Allerheiligen gefeiert wird. So ein Tag brach am Donnerstag dieser Woche in Estland an: "Jätku leiba" ("mehr Brot", oder auch "möge das Brot ausreichen") war das Motto. Nein, hier geht es nicht um Bäcker und Backstuben, sondern um die von der estnischen Regierung geplante allgemeine Erhöhung der Mehrwertsteuer: ab 2025 soll diese 24% (bisher 22%) betragen und auf nahezu alle Dienstleistungen angewandt werden (vatcalc).

"Nur Norwegen und Dänemark noch höhere Mehrwertsteuersätze", klagt der estnische Hotel- und Restaurantverband. 360 Restaurants, Cafés und Hotels schlossen sich am 31.10. dem Protest an und legten für die Zeit zwischen 12:30 und 12:40 Uhr die Arbeit nieder (es wurden keine Kundinnen und Kunden bedient). "Statt den Export anzukurbeln und die Wirtschaft zu fördern, erhöht der Staat einfach die Steuern, ohne in die wirtschaftliche Erholung zu investieren", so Protestkoordinatorin Killu Maid. Auch der Tourismus habe sich noch nicht vollständig von den pandemischen Zeiten erholt. (ERR)

Die estnische Regierung, allen voran Regierungschef Kristen Michal, benennt ganz offen, warum die Steuern erhöht werden. Eine "Verteidigungssteuer" aus drei Elementen soll es geben: Anhebung des Mehrwertsteuersatzes um 2 Prozentpunkte ab 1. Juli 2025, eine zusätzliche Steuer von 2 Prozent auf das steuerpflichtige Einkommen natürlicher Personen ab 2026, und eine Steuer von 2 Prozent auf Unternehmensgewinne. (ERR). Das Verteidigungsministerium hatte einen zusätzlichen Finanzbedarf von 1,6 Milliarden Euro angemeldet. Alle Ministerien werden aufgefordert, in den nächsten drei Jahren jeweils 10% ihres Budgets einzusparen. Laut Michal sollen nur Renten, innere Sicherheit, Polizei und Lehrpersonal von den Kürzungen ausgenommen werden.

Verantwortliche Stellen im Nachbarland Lettland verkünden, dass dort keine Erhöhung der Mehrwertsteuer geplant sei (sehr wohl aber die Steuern auf Alkohol, Treibstoff, Tabak und Glücksspiel). Die Protestaktion des Gastgewerbes fand aber dennoch gleichzeitig in allen drei baltischen Ländern statt - die Gastronomie werde in diesen Ländern ähnlich wie in Estland höher besteuert als anderswo in Europa, und Aufgrund des Anstiegs der Rohstoff- und Arbeitskosten machen sie sich auch Sorgen um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Dienstleistungen.(ERR / Postimees)