Auch in den Kinos bekommen es Interessierte mit "
Die Kinder des Fechters" in diesen Wochen mit einem Sport zu tun, der in den deutschen Medien so gut wie keine Sendezeit hat, also kaum jemandem aktuell näher bekannt sein sollte: dem Fechtsport. "Die Zahl derer, die in Deutschland hobbymäßig dem Fechtsport nachgehen, wird auf zirka 25.000 geschätzt", schreibt der
Deutsche Fechterbund, organisiert in 500 Fechtvereinen. Einerseits kann stolz berichtet werden, Fechten gehöre neben Boxen und Ringen zu den "ersten Wettbewerben der Menschheit" (auch besonders Ringen hat stark an Popularität verloren, gegen die Herausnahme aus dem olympischen Programm wurde kürzlich erfolgreich protestiert). Andererseits ist Fechten in der regionalen Sportberichterstattung vor allem in süd- und westdeutschen Landen präsent: die deutschen Meister kommen in der Regel aus Augsburg, Böblingen, Heidenheim, Koblenz - seltener auch mal aus Leverkusen, Düsseldorf, oder Bonn. In den 1980iger und 1990iger Jahren war
Tauberbischofsheim in den bundesdeutschen Schlagzeilen als "
Mekka des Fechtsports", und die Stadt ist wohl heute noch eine der wenigen, wo Fechten gleich auf den ersten Blick als Bestandteil des Images der Stadt zu erkennen ist. Mit über 370 Medaillen bei olympischen Spielen, Welt- und
Europameisterschaften zählt der
Fecht-Club Tauberbischofsheim e.V zu den
erfolgreichsten Vereinen weltweit - 1976 war der heutige Präsident des
Internationalen Olympischen Komitees (IOC) Thomas Bach Olympiasieger im Herrenflorett. Zuletzt vor 30 Jahren wurde mit Cornelia Hanisch eine Fechterin Deutschlands Sportlerin des Jahres (1985), im Jahr darauf war es die Degenfechter-Mannschaft.
Fechterimage
"Kids von heute können Fechten voll cool finden: Jede und jeder nimmt
schließlich mal einen Holzstock vom Waldboden (oder den Strohhalm vom
Saftglas) und fängt an sich zu schlagen - pardon zu fechten." So schreibt es der Deutsche Fechterbund. Was gerne verschwiegen wird, sind häufige Assoziationen mit den früher häufigen "schlagenden Verbindungen" der deutschen
Studentenschaften, weit verbreitet vor allem zu Zeiten des deutschen Kaiserreichs (auch: "Burschenschaften"), zu deren bekannt-berüchtigten Ritualen Duell und Mensur (Fechten mit scharfen Waffen) gehörten. Verbindungen zu politischen Strömungen waren dabei unterschiedlich gelagert: mal waren es Katholiken gegen Protestanten, nach 1850 waren viele durch zunehmenden Antisemitismus, stark konservativen Einstellungen und Nationalismus gekennzeichnet. Zu studentenbewegten Zeiten (68iger) standen die Burschenschaften und Studentenverbindungen unter besonders starker Kritik, in den sozialistischen Ländern galt auch Fechten als Teil typischer Relikte der alten herrschenden Klassen. - Auch heute noch gibt es Streitfragen; aktuell traten in den letzten Jahren 40 Burschenschaften aus dem Dachverband aus, weil ihnen dessen Tendenzen - beispielsweise Ausschluß von nicht-deutschen Mitgliedern - zu rechtsradikal schienen.
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estnisches Fecht-Idol: Julija Beljajewa |
Diese Thematik - fokussiert auf Sowjet-Estland - hat nun ein Film zur Grundlage, der im Dezember auch in die deutschen Kinos kam. Während der deutsche Kinobesucher vielleicht maximal etwas von den obigen Themen gehört hat - oder ganz neu zum ersten Mal Näheres über Fechtsport sehen wird - wie steht es um den Fechtsport eigentlich in Estland?
Im kleinen Estland erregt ja jeder Medaillengewinner große Aufmerksamkeit; so war es auch 2013, als bei den Fechtweltmeisterschaften sowohl
Nikolai Novosjolov (Degen) wie auch
Julia Beljajeva (Degen) die WM-Goldmedaille gewannen (Präsident Ilves gratulierte - wie sich das für einen estnischen Präsidenten gehört - per
Twitter).
Novosjolov, als ethnischer Russe gebürtig aus Haapsalu und seit 1996 im Besitz der estnischen Staatsbürgerschaft, wurde im gleichen Jahr (nach 2010) zum zweiten Mal Estlands Sportler des Jahres. Inzwischen ist er als
Mitglied der Reformpartei sogar in die Politik eingestiegen. Für Beljajeva war der WM-Sieg eine kleine Sensation - wenn man den Sieg 2010
Juniorinnen-WM im Team 2010 mal ausnimmt - so wird man als Fechtsportlerin auch mal von Presse und Fans
jubelnd am Flughafen Tallinn emfpangen. Aber vielleicht war es auch etwas Besonderes, als Beljajeva 2013 ebenfalls estnische Sportlerin des Jahres war und damit zwei Mitglieder aus derselben Branche in Estland geehrte wurden.
Eine Story von Drama und Abenteuer
Im estnischen Fechterfolgsjahr 2013 wurden sogar von Dichtern Loblieder aufs Fechten verfaßt (siehe Contra mit "
Võimas Musketärimaa").
Schon seit 1971 wird jedes Jahr um das "Schwert von Tallinn" gefochten - beim ersten Mal waren 42 Teilnehmer/innen dabei, 2015 waren es 273.
Beim Kinofilm "
Kinder des Fechters" (estnisch: "Vehkleja”, Finnisch "Miekkailija") geht es um Endel Nelis aus Haapsalu, gespielt vom estnischen Schauspieler
Märt Avandi. Das im Film erzählte Geschehen ist frei erfunden - anders gesagt, "dramatisiert" - und so kommt der Film darum herum, etwa von alten estnischen Burschenschaften oder gar glorreichen deutschbaltischen Zeiten erzählen zu müssen. "Jede Zeit schafft sich ihre neue Mythen" - das gilt auch für die Republik Estland. Die 2 Millionen Euro Budget teilen sich estnische, finnische und deutsche Produktionspartner, gedreht wurde natürlich in Haapsalu. Regisseur Klaus Härö wird mit diesem Film 2016 erneut Finnlands Oskar-Nominierung sein - für Härö zum dritten Mal. "Miekkailija" landete diesmal immerhin auf der
Shortlist, (die besten 9 von 81 Bewerbungen), am 8.Januar werden die besten fünf für die Endausscheidung festgelegt (nominiert ist der Film übrigens auch für den
Golden Globe). 2014 schaffte es die estnisch georgische Coproduktion "
Mandarinen" (
Mandariinid) auf die Liste der Oscar-Nominierten, gewann aber nicht. Dieses Jahr also hoffen die Esten auf den finnischen Umweg für den Einzug ins cineastische Pantheon.
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Endel Nelis, mit Fechterstandarte |
Der wirkliche
Endel Nelis starb 1993 in Haapsalu. Aus dem von ihm gegründeten Fechtklub "En garde" gingen einige bekannte Esten hervor, wie z.B. der Politiker
Andres Lipstok. Aber eine "wahre Geschichte" wird im Film nicht erzählt - besser gesagt wird die wirkliche Existenz dieser Person nur zum Anlaß genommen, einen eigenen Film zu machen - wohl vor allem, um die Filmhandlung in die Zeit 1952 / 1953 versetzen zu können. "Nelis hatte zwar oft mit Sowjetautoritäten zu tun, aber es gibt keinen Nachweis, dass er in ein Arbeitslager kam," gibt Regisseur Härö im
Interview zu. Man habe mehr von Estlands Geschichte in die Handlung einbauen wollen. Und da ist ja auch noch Drehbuchschreiberin Anna Heinämaa, selbst Fechterin, die auf die Idee für den "Fechter" bei einem Spaziergang durch Haapsalu kam, als sie angeblich ungewöhnlich viele Menschen in Fechtkleidung herumlaufen sah (
Tampere Magazin). In einem Fechtclub in Haapsalu sei sie dann auf Helen Nelis getroffen, Endels Tochter.
Die Verflechtung von angeblich realer Story mit dem Anspruch, estnische Geschichte erzählen zu wollen, treibt Kinogänger wie
Lars Tunçay (indiekino) zu der Behauptung, in Estland kenne jeder Endel Nelis' Geschichte; das Schrauben am Image Estlands scheint zu funktionieren (und natürlich haben viele Esten nun den Film gesehen).
Kammerspiel in der Schulturnhalle
Ich musste unter den vielen kurzen Kinokritiken etwas suchen, bis ich eine Bezeichnung fand, die auch meinem Eindruck entspricht, nachdem ich den Film sah.
Katharina Schulz bezeichnet es bei "Radio Berg" als "Kammerspiel in der Schulturnhalle". Treffend! Auch die Einordnung als "unkonventioneller Ansatz, der ansonsten abgesteckte Wege geht" kann ich teilen. Denn so ungewöhnlich zunächst der Ausgangsort der Geschichte sich anfühlt - am Ende des Films lassen sich doch eine ganze Menge Dinge aufzählen, die der Film eben NICHT erzählt: nicht über die Faszination des Fechtens an sich. Nichts über estnisches Leben in der Sowjetzeit. Sogar Endels wahrscheinlicher Hintergrund, dass er zu Zeiten der deutschen Besetzung als SS-Mitglied gekämpft haben könnte und daher auf der "schwarzen Liste der Roten" steht, wird nicht benannt. Vielmehr wird unter den Zusehern eine automatische Angst vor den "Schrecken des Kommunismus" vermutet und vorausgesetzt: "Der böse Schulleiter ist böse. Der weise Großvater ist weise. Die süßen
Kinder sind süß, und die Politkommissare steigen in knöchellangen
Ledermänteln aus ihren schwarzen Autos" (Katharina Schulz).
Dazu kommt dann noch, dass der Held der Kinder dann tatsächlich in Leningrad während des Fechtturniers vom KGB verhaftet wird - nur um dann nach einer kurzen Schwarzblende wieder - scheinbar unversehrt - am Bahnhof von Haapsalu aufzutauchen, unbeschadet, alle Kinderchen warten (und sehen noch genauso aus wie vor seiner Verhaftung), und der Held geht mit ihnen und seiner Geliebten im Arm in den Sonnenuntergang ...
Ross A. Lincoln drückt es bei "Dealine-com" so aus: "Ein Drittel 'Karate Kid', ein Drittel 'Club der toten Dichter', ein Drittel 'Animal Farm' ".
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"Echter" Fechtnachwuchs, stolz auf das Geleistete beim Fechtklub "En Garde" in Haapsalu |
Ja, also ein schöner Film. Märt Avandi spielt durchaus beeindruckend, er entwickelt einen Charakter der Eindruck hinterläßt. Aber die Geschichte verharrt unentschlossen zwischen Kinderfilm und flach erzähltem Historienschinken. Es ist eben weder "Stalins Staat der Angst" (
Badische Zeitung"), noch "David gegen Goliath". Diese heruntergekommende Schulturnhalle hätte auch im Westdeutschland der frühen Adenauerzeit stehen können, und die Lehrer hätten genauso menschenfeindlich und steif, auf Karriere bedacht, autoritätshörig und ähnlich unkollegial sein können.
Vielleicht ist es auch gerade die potentielle Ähnlichkeit zu eigenen Kindheitserlebnissen, die manche deutsche Kinokritker so positiv reagieren lässt. Oder vielleicht sogar die Begegnung mit vom Krieg traumatiesierten Kindern heute? Da trifft aktuell manches trendige zusammen.
Oder die vorgefassten Schablonen, die Deutsche nun mal so haben: Der "
FilmNewsBayernBlog" zitiert die Münchner Produktionsfirma "Kick Film", die den Film offenbar mit Bezügen zur aktuellen poltischen Lage bewirbt. Von Putin bedrohte Esten als Motivation gerade diesen Film zu sehen. Putin, Stalin, Lenin ... alles dasselbe?
Kampfesmutige Esten und beachtenswert gute Kinderdarsteller - ok. Der Hauptdarsteller ein "schöner Ritter mit einem kleinen Geheimnis" (so
Klaus Härö). Wenn da eben nicht das Drehbuch wäre, das alles zusammen wie in ein Korsett zwängt, keine Zweideutigkeiten, kein Konflikte, kein Scheitern und keine Lügen. Es kommt keine rechte Tiefe auf, trotz sehr gut komponierter
Filmmusik (
Gert Wilden Jr.). Eine gute Kameraführung und, schlicht und einfach "schöne Bilder", machen den Film dennoch zu einem recht kurzweiligen Kinoerlebnis.
Zorro Filmverleih /
Fechtklub "En Garde" Haapsalu /
Webseite zum Film