Demokratie heißt Volksherrschaft. Und wenn das in vielen Demokratien vorwiegend bedeutet, einmal in vier Jahren zur Wahl zu gehen, dann haben die Esten im letzten Herbst Ernst gemacht mit der Einberufung eines rundes Tisches aus Ottos Normalverbrauchern, also durchaus auch nicht organisierten Menschen.
Grund für diesen Schritt war eine weit verbreitete Stimmung, die in Deutschland unter dem Begriff Politikverdrossenheit bekannt ist. Und das vor einem überraschenden Hintergrund. Estland gilt als baltischer Tiger unter den postsozialistischen Ländern, hat 2011 den Euro eingeführt und mit Ministerpräsident Andrus Ansip einen liberalen Regierungschef, der seit 2005 im Amt ist – ein einsamer Rekord unter den Transformationsstaaten im Osten Europas. Und obwohl er nun in den vergangenen Jahren immer wieder gewählt worden war, regte sich seit 2012 mehr und mehr Unmut über einsame Entscheidungen der politischen Elite und den Regierungsstil Ansips.
Ins Rollen kamen die Proteste durch den ehemaligen generalsekretär der Reformpartei, Silver Meikar, der vergangenes Jahr an Die Öffentlichkeit ging und berichtete, er habe über Jahre geld aus anonymen Quellen erhalten und wie ihm geheißen an die Partei weitergeleitet. Zunächst reagierte diese darauf mit einer generellen Leugnung und schmiß den Politiker aus ihren Reihen. Doch der Skandal zog schnell weitere Kreise und schließlich mußte Justizminister Kristen Michal zurücktreten.
Das führte im Herbst 2012 zu Massendemonstrationen, weldeh die Hauptstadt Tallinn lange nicht gesehen hatte. Intellektuelle verfaßten eine Charte, in der sie vom Zerbröseln der Demokratie im Lande sprachen, die inzwischen von fast 20.000 Menschen online im Internet unterzeichnet worden ist. An der Spitze der bewegung stand Marju Lauristin, eine Aktivistin aus der Umbruchszeit zum Ende der Sowjetunion, die in den 90er Jahren einmal Ministerin war und den Sozialdemokraten angehörte, im Hauptberuf jedoch als Universiotätsprofessorin wirkte.
Die Politik mußte schließlich handeln. An die Spitze setzte sich Präsident Toomas Hendrik Ilves , der im November Vertreter der Zivilgesellschaft in den alten Eiskeller des Schlosses Kadriorg, dem alten Amtssitz einlud. Nicht ganz unerwartet für ein Land, das sich gerne auch E-stonia nennt, wurde die Protestbewegung weitgehend über das Internet organisiert. Über eine eigens eingerichtete Seite konnte jeder Einwohner Estlands Vorschläge unterbreiten, womit sich die Politik dringend einmal beschäftigen müsse. Diese wurden dann von Experten gesichtet und strukturiert, so daß am Ende 18 Arbeitspunkte dem vom Präsidenten einberufenen Runden Tisch zur Diskussion vorgelegt.
Dieser Runde Tisch bestand aus ca. 300 Personen von mehr als 500 ausgewählten, welche sich dann tatsächlich die Mühe machten, in die Hauptstadt zu fahren. Ausgewählt wurden sie weitgehend nach dem Zufallsprinzip. Es handelte sich also nicht um ein Gremium von Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft. Gerade aus den ländlichen Gebieten waren zahlreiche Kandidaten nicht angereist, wofür es vermutlich vesrchiedene Gründe gibt. Neben Zeit- und Geldmangel mag es sicher auch der Respekt vor der Öffentlichkeit gewesen sein. Die Politik vor dem Fernseher zu kritisieren ist schließlich einfacher, als in der Hauptstadt seine Themen persönlich vor einem großen Publikum vortragen zu müssen. Auf diese Weise fehlten besonders Vertreter der russischen Minderheit wie auch von Bürgern mit geringerem Bildungsniveau.
Der Runde Tisch erwies sich schließlich als weniger poulistisch als man hätte erwarten können. So wurde etwa die auch in anderen parlamentarischen Demokratien gerne geforderte Direktwahl des Präsidenten abgelehnt. Alle weiteren Vorschläge wurden via Präsident Ilves an das Parlament weitergeleitet, wo die Beratungen erst ergeben müssen, welche Ideen aus dem Volk auch dort eine Mehrheit finden. In jedem Fall sind zahlreiche Intellektuelle hier noch skeptisch.