Aus deutscher Sicht mögen ja die Presseerklärungen und das Selbstlob, was Politiker bei solchen Anlässen gern verbreiten, eher nebensächliche Bedeutung haben - vielleicht ist es in den Augen der deutschen Öffentlichkeit bestenfalls eine Anerkennung dafür das Estland inzwischen nicht mehr ganz unbekannt ist in Europa. Estland seinerseits arbeitet daran in Deutschland nicht als eines derjenigen Länder gesehen zu werden, die "nur an unser Geld wollen", wie es Kritiker der EU-Erweiterung manchmal sagen.
Wie "typisch estnische Schlagzeilen" liest sich da der Estland Bericht den die WAZ am 12.4. brachte: "Ein Besuch in der ersten Internet-Republik". Gäbe es ein Land wie Estland nicht - denken sich dabei vielleicht die Leser - so könnte es auch virtuell erfunden sein. Die deutsche Seite fügt das Thema Datensicherheit hinzu - und schon kann die Diskussion ziemliche Längen einnehmen.
Regierungsmüde? Wir nicht.
Wer nur ein Jahrzehnt zurückschaut wird aus estnischer Sicht vielleicht feststellen, dass fast "nebenbei" nun Wirklichkeit geworden ist, was Estland ebenso wie Lettland und Litauen anzustreben versuchten: noch vor wenigen Jahren fanden deutsch-estnische Treffen fast nur "auf dem Weg zu" statt. Kurz vor Treffen mit russischen Politikern meistens, oder vor Gipfeltreffen mit osteuropäischen Themen. Heute hat ein deutsch-estnisches Treffen seine eigene Agenda. Das ist anerkennenswert, auch aus Sicht der deutschen Politik, und empfehlenswert auch für zukünftige Regierungschefs. Da bleibt das sogenannte "Baltikum" allenfalls der Wetterkarte vorbehalten - von Estland ist die Rede.
Die gewählten Schwerpunktthemen entsprechen natürlich den politischen Prägungen der beiden Hauptakteure. Ansip, wie Merkel naturwissenschaftlich ausgebildet (er Chemiker, sie Physikerin), hat ebenfalls Erfahrung mit einer ungewöhnlich langen Amtszeit als Regierungschef: seit April 2005 ist er ununterbrochen Estlands Ministerpräsident, und damit ein paar Monate länger noch als seine deutsche Kollegin. Und da Estland momentan mit der Einführung des Euro noch einen Schritt mehr gewagt hat als seine südlichen "baltischen" Nachbarn, kann in den entsprechenden Presseerklärungen auch allein vom "Modell Estland" die Rede sein. Ansip seinerseits stellt sich deutlich an die Seite Deutschlands und Merkels, wenn er sagt: "Ich bin davon überzeugt, dass meine Kollegin Angela Merkel nicht nur Deutschland gut führt, sondern sie ist auch eine gute Führungskraft für die ganze EU. Ich bin davon überzeugt, dass sie in der Europäischen Union auch Estland vertritt. " (siehe: Pressekonferenz 17.4.)
Estland für die Wirtschaft, Estland für die Bayern
Nun könnte man spitzfindig sein und sagen: nun ja, Russland liegt ja auch außerhalb der EU, und die Esten behalten es sich vor, zum nahen Nachbarn im Osten eine eigene Meinung zu haben. Hierzu gäbe es in der CDU sicherlich verschiedene Meinungen: wenn Putin gerade bei einem wichtigen Wirtschaftstreffen wie der Hannover-Messe stürmisch kritisiert wird sind die meisten CDU-Wirtschaftspolitiker wahrscheinlich doch eher peinlich berührt. Ansip sagte hierzu nichts - er wurde aber auch nicht danach gefragt. Lieber erklärte er den Ausbau der Bahnstrecke nach Estland ("Rail Baltica") für wichtig für alle drei baltischen Staaten (im Wissen, dass zumindest Lettland bei diesem Thema momentan sehr zögerlich agiert). Oder der Ausbau der Verbindungen im Energiesektor sei vordringlich. Wie schon bekannt.
Nur die vom Büro des Regierungschefs in Estland verbreitete Meldung enthält sehr feine Kritik, wenn man das denn so lesen möchte: Deutschland rangiert bei den Investitionen in Estland "nur" auf Rang acht, aus der Sicht Estlands ist Deutschland Handelspartner Nr.5, beim estnischen Außenhandel hält Deutschland einen Anteil von 7,5%. Und der Anteil deutscher Touristen in Estland stieg (gemäß statistischen Daten) im dritten Jahr in Folge an und liegt jetzt bei 111.251 deutsche Gäste in Estland im Jahr 2012; auch das kann sicherlich noch mehr werden - lediglich 6% der Übernachtungen in Estland buchen deutsche Touristen, und sehr viele übernachten selten außerhalb von Tallinn, und sehr wenige buchen mehr als zwei Übernachtungen.
Selbstdarstellung in weiß-blau: Bayern prägt dieses Jahr das Deutschland-Bild in Tallinn |
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