Von Ende 2006 bis Mitte 2007 überschnitten sich die Amtszeiten der Präsidenten der baltischen Republiken so, daß gleichzeitig Rückkehrer aus dem Exil diese Position in Estland, Lettland und Litauen besetzten, Menschen, welche die Zeit der Sowjetherrschaft nicht persönlich erlebt hatten. Valdas Adamkus war in Litauen so populär, daß er nach dem Intermezzo mit dem später durch ein Impeachment abgesetzten Rolandas Paksas erneut gewählt wurde. Vaira Vīķe-Freiberga in Lettland überzeugte die Letten als Kompromißkandidatin, während in Estland mit Toomas Hendrik Ilves ein Mann aus der aktiven Politik das Amt bekleidet – er war vorher bereits zwei Mal Außenminister gewesen.
Über die Frage, was Osteuropa ist, gab es in der Politikwissenschaft in den 90er Jahren umfangreiche Diskussionen. Der Kompromiß lief in etwa darauf hinaus, sich auf diesen Begriff für die post-sozialistischen Staaten zu einigen. Estland jedoch mit seinem großen Bruder Finnland orientierte sich ganz im Gegenteil zu seinem südlichen Nachbarn Lettland schnell weg von einer Orientierung auf die schicksalhafte Vergangenheit hin zur Gestaltung einer neuen Zukunft. Ilves war es, der als Außenminister die Bezeichnung Estlands als osteuropäischen Staat zurückwies und erklärte, Estland sei ein nordischer Staat.
Vor den Sowjets waren viele Menschen aus dem Baltikum geflohen. Communities gibt es in Amerika, Australien, Schweden und Deutschland, um nur einige zu nennen. Einige der Flüchtlinge und auch einige Sprößlinge dieser Familien kehrten nach 1991 zurück. Für die örtliche Bevölkerung waren sie teilweisewillkommene Helfer, schnell aber wurde ähnlich wie im wiedervereinigten Deutschland klar, daß es Mentalitätsunterschiede gibt. In den 90er Jahren war der Vorwurf an die Exilanten aber auch andere Ausländer, sie verstünden überhaupt nichts, denn sie hätten ja nicht votr Ort gelebt, alltäglich.
Die meisten politisch aktiven Rückkehrer verschwanden schnell wieder von der politischen Bühne, wobei darunter sicher auch einige schillernde bis zwielichtige Personen waren wie etwa der Ex-Militär Jüri Toomepuu in Estland mit seiner radikalnationalistischen Partei wie auch der Pseudo-Lette Joachim Siegerist mit seinem Bananen-Coup.
Nun neigt sich die Amtszeit von Toomas Hendrik Ilves in Estland dem Ende zu und der Kolumnist Ahto Lohjakas meint, Ilves habe sich zunehmend von den Menschen im Lande entfernt und würde derzeit kaum eine Direktwahl gewinnen. Andrus Saar vom demoskopischen Institut Saar Poll pflichtet dem bei und sagt, Ilves habe seine Rolle als Präsident noch nicht gefunden, er wirke eher wie ein Gouverneur. Anstelle überzeugender Ideen, die er zielstrebig durchsetzen müßte, wechsele er häufig seine Positionen, mal näher am Volk mal ferner von ihm. Er halte Reden, welche die Angesprochenen nicht erreiche. Sein Urteil: den Präsidenten sähe man häufig, aber sichtbar sei er selten. Saar spricht von einer gläsernen Wand und wenig Empathie.
Da in Estland das Parlament den Präsidenten wählt und nicht das Volk, so Saar, ist von eienr Wiederwahl auszugehen, denn für die politische Elite gebe es keine Schwierigkeiten mit Ilves. Die estnische Verfassung sieht eine 3/5-Mehrheit für die Wahl des Präsidenten vor, was bislang seit der Unabhängigkeit nie geglückt ist, weshalb verfassungsgemäß ein Gremium aus Abgeordneten und Vertretern der kommunalen Parlamente zusammenkam. Nach den jüngsten Wahlen im März gibt es jedoch in Riigikogu nur noch vier Fraktionen. Die beiden Koalitionsfraktionen hatten Ilves auch früher unterstützt. Die oppositionellen Sozialdemokraten sind die politische Heimat des Präsidenten. Damit bleibt nur Savisaars Zentrumspartei, die gegen Ilves sein könnte. Gut möglich, daß das Parlament tatsächlich dieses Jahr erstmalig die Entscheidung direkt trifft.