Montag, Januar 31, 2011

Untergang in Estland

Blaugraue Farben, von allgegenwärtiger Feuchtigkeit abblätternder Putz, notdürftige Stützbalken - auch ein Gebäude kann symbolisch für einen kommenden Untergang stehen. Nur notdürftig aufrechterhaltene Harmonie der Familie, gewaltsame Männer und mühsam das Ansehen wahrende Frauen - diese sommerlichen Tage an der estnischen Küste sind hier weit entfernt von erholsamer Sommerfrische. 1914 wurde in Estland einer der ersten (estnischen) Filme gedreht: "Bärenjagd in Pärnumaa" - ein Sängerfest froh gestimmter Esten gab es im Jahr des Kriegsausbruchs nicht (nach 1910 erst 1923 wieder).

Edgar Selge, Paula Beer, Jeanette Hain und Chris Kraus
am 28.1. bei der Filmpremiere in Hamburg
2010 ist das Jahr, in dem "Poll" fertiggestellt wurde. Im weitesten Sinne spielt dieser Film ebenfalls in "Pärnumaa" (siehe auch "Westsee"). 14 Jahre war die Nachwuchs-Schauspielerin Paula Beer bei den Dreharbeiten, in etwa dieselbe Zeitspanne brütete der Regisseur über dem Drehbuch bis es zur Realisierung reichte. Keiner der noch bestehenden alten Gutshofsgebäude in Estland reichte ihm für eine Umsetzung, zwei Jahre sei er in verschiedenen Ländern Osteuropas herumgereist auf der Suche nach einem geeigneten Drehort, so Chris Kraus am 28.1. bei der Filmpremiere in Hamburg. Auch die Deutschen, die Estland bereits kennen, müssen sich während dieses Films damit abfinden, dass weder die vielleicht bedeutsamen Kulturleistungen von in Estland als Oberschicht etablierten Deutschen hervorgekramt werden, noch die für den müden Städter attraktiven Landschaften des Naturtourismus.

Premierenbesucher
Ein Hilfsmittel zum Verständnis, was diesen Film eigentlich ausmacht, ist auch der englische Titel "Poll diaries" (Poll Tagebücher). Die realen Aufzeichnungen der Oda Schäfer - leider soweit ich weiß nicht öffentlich zugänglich - sind der rote Faden, nach dem das Drehbuch auch während der Produktion etliche Male umgeschrieben wurde. Es geht also nicht um das Bemühen, einen Zeitabschnitt (also den Ausbruch des 1.Weltkriegs) aus estnischer oder deutschbaltischer Sicht zu zeigen. Es geht vielmehr um die Absicht des Drehbuchschreibers, die seiner Ansicht nach vorhandenen Lücken in Oda Schäfers Schilderungen mit Leben füllen zu wollen. "Meine ganze Familie ist absolut gegen den Film", bekennt Kraus in einem Interview mit Michael Guillen für "Twitch". Sein früherer Berufswunsch, Historiker zu werden, ist inzwischen vom Rampenlicht erleuchtet. Die Suche nach Fakten und Hintergründen ist von der Lust am Ausmalen von Geschichten, am ins Bild setzen von Träumen und Visionen, und vom Bestreben nach Unterhaltung des Publikums erfüllt - sogar von dem Gefühl der Zufriedenheit, durch gute Teamarbeit sogar große Projekte stemmen zu können. Das werden ihm die Deutschbalten entschuldigen müssen. Bestes Argument: ein guter Film.

Paula Beer
Nach dem Kinobesuch bleiben zunächst die Eindrücke der sehr gelungenen Dinge vorherrschend. Monumentale Bilder einer untergehenden, rätselhaft verschrobenen Welt. Eine herausragende Figur der Oda, die das große Lob für die Darstellung ihrer Rolle sicher nicht nur an ihr Schauspielcoaching weitergeben sollte, sondern auch an Maske, Szenenbild und Kamera. Chris Kraus drehte mit einem überwiegend weiblichem Team (noch eine Feststellung von Michael Guillen). Das Erstaunliche liegt auch im Spektrum der emotionalen Herausforderungen, die sich Oda stellen muss: manchmal eher einer 14-Jährigen gemäß, manchmal eher eine 40-Jährigen. 

All das setzt der Film auf beeindruckende Weise ins Bild. Vielleicht bestand auch die Befürchtung der Filmemacher darin, die Zuschauer könnten zunächst Zweifel an Oda bekommen, und dann Zweifel an der zugrundeliegenden wahren Geschichte. So hat man es erst gar nicht versucht, im Bezug auf Estland und die Deutschbalten allzu genau zu sein: das "echte" Gut Poll (Põlula) liegt nicht direkt am Meer, und im Film tauchen vielleicht mehr "Anarchisten" auf als es im realen Estland von 1914 wirklich gab. "Die Unruhen in Ägypten eskalieren und drohen vollends in Anarchie umzuschlagen" - ein Satz aus der heutigen Tagesschau. Nein, vielleicht drohte 1905 in der damaligen russischen Ostseeprovinz Estland so etwas wie "Anarchie" - zumindest ein Volksaufstand. Jeder geschichtsinteressierte Deutsche wird Esten auch nach der "Georgnacht" fragen können. - Und gegen Ende des 1.Weltkriegs waren es schon eher "Freiheitskämpfer"- so zumindest die Selbstdefinition. Auch "Waldbruder" ist ja nun wieder ein anderes historisches Stichwort, ebenfalls verbunden mit gegen die herrschende Macht sich in Sümpfen und Wald versteckenden bewaffnet organisierten Menschen. In diesem Sinne musste der Film viele Klippen umschiffen - auf dem Weg zu einer Vision vom Untergang, der vorwiegend symbolische Ausmaße und Erscheinungsformen hat.
Premierenpublikum in Hamburg

"Du kannst noch so viele Köpfe aufsägen, du hast keine Ahnung was einen Menschen ausmacht," so der vielsagende Hinweis der "Milla" an ihren Mann, dessen "Labor" die ganze Szenerie des heraufziehenden Unheils beherrscht. Während die Figur des hirnaufschneidenden Arztes (Edgar Selge) im Laufe des Films eher schwächer wird, explodiert plötzlich die Gestalt des eher steifen, wortkargen Hausverwalters Mechmershausen. Auch hier hat der Drehbuchautor wohl den Deutschbalten noch einen weiteren Diskussionsgegenstand absichtlich vorgesetzt - ansonsten hätte in dieser Funktion und Rolle ja auch leicht ebenso ein Este sein können. Auch 1905 hatten sich einige bereits deutschfreundlich assimilierte Esten gegen ihre Gutsherren gewandt. 

Tambet Tuisk
Die Mehrheit der Zuschauer wird den Kinosaal wahrscheinlich beeindruckt verlassen, so wie ich. Beeindruckt von den Bildern, Landschaften, Stimmungen und Farben, von einer nach ein paar wenigen Längen sich zum Schluß dramatisch entwickelnden Handlung, und guten Schauspielern. Auch die Musik findet sich gut in die Filmstimmung ein. Nicht verstanden habe ich, warum Verleih und Produktionsfirma jegliche nähere Info zu Enno Trebs (in der Rolle des Paul) wegläßt - denn auch diese Rolle wurde konsequent und gut ausgefüllt, und ist nicht ganz unwichtig auch für die Entwicklung der Handlung. Spannend ist aber, dass Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus offenbar für verschiedene potentielle Zuschauergruppen noch kleine Rätsel offen läßt, die entweder zum mehrfachen Filmschauen einladen, oder zum eifrigen Nachfragen bei kundigen Leuten (ersatzweise: Wikipedia). Das fängt an bei einigen vom Original-Esten Tambet Tuisk in Original-Estnisch gesagten Aussprüchen und hört auch bei dem ebenfalls von Tuisk alias "Schnaps" den genauen Zuhörern hingeworfenen Namen "Kügelgen" nicht auf. Schnaps lernt angeblich ausgerechnet in Sibirien von einem Offizier aus Riga Deutsch, um ihn dann zu töten. Solche fein ausgedachten Spitzen gehen allerdings etwas unter im Soundmanagement - sie sind kaum zu verstehen. In estnischen Augen von heute wirkt dagegen in diesem Film vielleicht der unüberhörbare und sichtlich zwanghafte Umgang mit "Hausmusik" eher merkwürdig.

Ich vermute also, es werden noch andere Reaktionen folgen auf diesen Film.

Mehr zum Film "Poll" - Zuschauerreaktionen nach der Premiere in Hamburg, und ein Interview mit dem estnischen Schauspieler Tambet Tuisk ("Schnaps") - werden zu hören sein in der Sendung "Baltische Stunde" vom 15.2.2011.

1 Kommentar:

  1. Es gibt einem Autor natürlich eine Menge Freiheit, wenn er sich mit einer fast ausgestorbenen Kultur beschäftigt (ob er sich damit schmückt, muß der Augenschein belegen). Man bemüht sich immerhin, baltisch zu sprechen, und tatsächlich gibt es auch noch ein paar Exemplare, die die Mundart astrein beherrschen, das ist mir auch im Exil in die Wiege gelegt worden -- mitsamt einer Reihe ausgestorbener Begriffe. Surrealistisch ist natürlich dieses Gutshaus auf den Findlingen am Strand, natürlich gab es das nie, aber niemand wird daran Anstoß nehmen, Tarkovsky läßt grüßen. Ich bin jedenfalls gespannt auf den Film, hoffe, daß das Makabre nicht zu sehr in den Vordergrund tritt, und werde versuchen, künstlerische Werte den konservierenden überzuordnen.

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