Die vermeintlich weibliche Gesellschaft, ihre Formen, Ursachen und Fakten für das Beispiel Lettland wurden im Blog auf Deutsch und in der lettischen Tageszeitung Diena bereits diskutiert. Über die sozialen Folgen wird auch in der estnischen Presse berichtet: mit welchen Fragen werden heute im Ausland lebene Frauen konfrontiert und wie leben jene in Estland verbliebenen. Internationale Konflikte nach Trennungen bleiben ebenfalls nicht aus.
Aber zunächst einige Hintergründe.
Gesellschaftliche Realität im Sozialismus
Die Wirtschaft während er sowjetischen Zeit war weniger auf Dienstleistungen als auf Produktion ausgerichtet und diese war im Vergleich mit dem Westen wenig technisiert und deshalb eine arbeitsintensive. Da wenigstens ideologisch die Gleichstellung der Frau propagiert wurde, waren diese auch in Berufen beschäftigt, wo sie in westeuropäischen Gesellschaften kaum zu finden sind. Das fällt auch nach der Wende ausländischen Beobachtern meist schnell auf: Trolleybusse und Straßenbahnen werden überwiegend von Frauen gefahren.
Aber nicht nur darin unterscheidet sich die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Wegen der offiziellen und faktischen Gleichstellung, aber auch wegen der diktatorischen Herrschaft, die staatsbürgerliches Engagement nicht erlaubte, gab es in der Sowjetunion nie eine Frauenbewegung. Entgegen der bedeuteten Rolle der Frauen im Wirtschaftsbetrieb und oftmals als Manager ihrer Familie, hat sich ein archaisches Rollenbild der Geschlechter erhalten. Auch dies bemerken Ausländer schnell, daß die Damen im Alltag so viel wert auf ihr Äußeres legen wie in westlichen Gesellschaften nur zu bedeutenderen Anlässen. Bei längerer Beobachtung wird schnell deutlich, daß für die Frauen angesichts des männlichen Rollenverständnis die Verbindung von Beruf und Haushaltsführung der Normalfall ist.
Dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte eine Wirtschaftskrise und sozialer Niedergang, aber er brachte ebenso die Unabhängigkeit und neue Möglichkeiten.
Ausland und Ausländer als Ausweg?
Nach der Unabhängigkeit suchten viele Frauen ihr Heil in einer Verbindung mit einem westlichen Ausländer, zunächst häufig Finnen. Diese bilden allein wegen der geographischen Nähe den größten Anteil der touristisch oder geschäftlich in Estland reisenden Westler. Und dank der Empfangsmöglichkeit des finnischen Fernsehens schon während der Sowjetzeit war den meisten Esten diese eng verwandte Sprache geläufig. Die Attraktivität eines finnischen Partners minderte später der schlechte Ruf dieser Nation. Zu viele Finnen besuchten Estland vorwiegend wegen des günstigen Alkohols. Außerdem kamen als alternative Klientel Besucher zunehmend aus anderen westeuropäischen Staaten und aus Übersee.
Die Verbindung mit einem Ausländer bedeutet für die Frauen meistens früher oder später die dauerhafte Übersiedlung in ein anderes Land, denn die wenigsten Fremden übersiedeln auf Dauer nach Estland. Sie besuchen das Land meist nur zu Terminen oder leben als Vertreter ausländischer Firmen und Organisationen nur für einige Jahre an einem Einsatzort, um anschließend wieder versetzt zu werden. Für Vertreterinnen einer Nation, die gerade erst ihre Unabhängigkeit wiedergewonnen hat, ein schwerer Schritt, der mit dem Wechsel in eine andere Sprache einhergeht, denn das Estnische erlernen die wenigsten Ausländer. Trotzdem sind sie für einheimische Frauen eine so attraktive Partie, daß selten ein zeitweise nach Estland übersiedelter Ausländer lange alleinstehend bleibt. Keine Einheimische zur Frau nehmen meist nur jene, die bereits verheiratet sind.
Traditionelles Denken und Erhalt der Tradition
Ein Bestandteil des traditionellen Rollenverständnis ist der Kinderwunsch. Und damit wird der Erhalt der Muttersprache im Ausland und die Weitergabe an den eigenen Nachwuchs zum Thema. Viele im Ausland verheiratete Frauen lesen ihren Kindern vor, hören gemeinsam Kassetten und schauen Filme. Nichtsdestotrotz ist zu beobachten, wie die Kinder auf dem Weg zur Schule, so wird ein Beispiel aus New York beschrieben, die ersten Blocks noch mit Mama Estnisch sprechen, aber zehn Minuten später dann doch ins Englische wechseln. Eine mit einem deutschen verheiratete Estin, die mittlerweile in die USA umgezogen ist, mußte sich von ihrem elfjährigen Sohn fragen lassen, warum er in einer Sprache reden solle, die keiner seiner Freunde verstünde. Die Mutter antwortete ihm mit der Gegenfrage, wie er sonst mit seiner Großmutter kommunizieren wolle. Besonders schwierig wird es nach einhelliger Erfahrung, sobald die Kinder die Schule besuchen. Dann tritt die im Lande nicht gesprochene Muttersprache des einen Elternteils in den Hintergrund.
Das Rezept einiger Mütter dagegen ist, sich taub zu stellen. Ansonsten, so argumentieren sie, lernen die Kinder die Sprache nur passiv, verstehen sie, aber antworten doch in der anderen Sprache. Nicht immer ist dieses Vorgehen erfolgreich, weil manche Kinder darauf mit Trotz reagieren.
Aber manche Frauen berichten auch über innerfamiliäre Konflikte. Väter und Schwiegereltern fühlen sich mitunter ausgegrenzt, wenn Mutter und Kinder in ihrer Gegenwart in einer für sie unverständlichen Sprache kommunizieren. In manchen Familien ist der Gebrauch der Muttersprache der Mutter darum sogar verboten. Doch auch wenn es gelingt, die Muttersprache an die eigenen Kinder weiterzugeben, wird es in der dritten Generation zunehmend schwierig.
Traditionelles Denken und sowjetische Traditionen
Doch nicht alle Frauen können sich aus Patriotismus vorstellen, die Ehe mit einem Ausländer einzugehen und ihre Heimat zu verlassen. Einigen ist es vielleicht auch nicht gelungen, den entsprechenden Partner zu finden. So gab es gerade in den ersten Jahren nach dem Umbruch leider auch tragische Geschichten von Frauen, die ihr Geld in der Prostitution verdienten und sich dabei etwa mit AIDS infizierten. Sextourismus ist inzwischen vor allem auch im benachbarten Lettland ein Thema.
Neben den üblichen Gründen, sich diesem Risiko auszusetzen, wirkt hier ein vom Westen grundlegend abweichender Umgang mit Sexualität während der Sowjetzeit nach, der sich in der postsozialistischen Gesellschaft noch heute in einer über dem europäischen Durchschnitt liegenden Zahl von Abtreibungen wie auch im sozialen Profil der Patientinnen manifestiert. Während in westlichen Staaten die wenigstens Abtreibungen von Frauen gewünscht werden, die Familien haben und über 40 Jahre alt sind, sei es in Estland genau umgekehrt, so die Gynäkologin Kai Haldre. 71,4% der Frauen haben bereits wenigstens ein Kind und für 60,3% ist es nicht die erste Abtreibung. Das durchschnittliche Alter der Frauen beträgt 28,3 Jahre. Sie verfügen zumeist die über eine dem deutschen Realschulabschluß vergleichbare teils auch berufsspezifische Mittelschulbildung. Der Anteil mit Hochschulbildung ist seit 2001 von 9,5 auf 14,3% gestiegen. Die Frauen sind zu 57% berufstätig und leben zu 57% in einer festen Beziehung oder sind verheiratet. Sehr viele Patienten wollten irgendwann später noch einmal Kinder, so Heldre und erklärt dieses Verhalten mit fehlendem Vertrauen in Verhütungsmittel.
Ursächlich für diese beinahe als Ignoranz gegenüber der eigenen Gesundheit zu bezeichnende Haltung wie auch die Abwesenheit im Westen regelmäßig diskutierter moralischer Bedenken ist die Sowjetzeit. Im Gegenteil zu vielen westlichen Ländern, wo Abtreibungen erst in den 70er Jahren legalisiert wurden, wurden Abtreibungen hier ähnlich wie in anderen sozialistischen Bruderstaaten nicht besonders eingeschränkt. Die Zugänglichkeit von Verhütungsmitteln war es hingegen wohl, entsprechende Präparate geradezu verboten, wie Haldre sich ausdrückt. In den postsozialistischen Ländern wurden sie erst in den 90er Jahren verbreitet. Auch eine Sexualerziehung auf westlichem Niveau fehlte in der Sowjetzeit.
So ist es für Haldre nicht Ungewöhnliches, wenn eine Patientin in ihrer Praxis angibt, ihre Mutter habe gesagt, daß Verhütungstabletten gesundheitsschädigender seien als eine Abtreibung. Noch verbreiteter sind zweifelhafte Verhütungsmethoden. So haben nach eigenen Angaben 57,4% der Patientinnen, die eine Abtreibung wünschten, zwar in irgendeiner Form zu verhütet versucht, von denen sich 34,9% nur auf die Unterbrechung des Beischlafes verließen.
Derart unsichere Methoden sind in Estland, wie Haldre bedauert ganz im Gegenteil zu den nordischen Ländern, mit denen Estlands politische Elite sich gerne assoziiert, um sich von Osteuropa oder dem postsozialistischen Raum zu distanzieren, verbreitet. Die Ärztin ist sich unsicher, was in den Praxen, aber auch in den Köpfen der Betroffenen vorgeht, wenn weniger als ein Viertel der Frauen vor und nach der Wunschäußerung, eine Abtreibung vorzunehmen, sich mit Verhütung beschäftigen.
Als Gründe für die Abtreibung geben 37,2% der Frauen wirtschaftliche Probleme an, 23% vertrauen der Zukunft ihrer Partnerschaften nicht, respektive 11,9% möchten kein Kind von dem biologischen Vater. 17% beklagen eine zu kleine Wohnung und 16% wollen ihre Ausbildung erst beenden. Die Bereitschaft zur Erziehung fehlt 16,8% der Frauen und 11,1% sehen sich generell nicht als Mutter. 10,4% der Frauen möchten die Alleinerziehung vermeiden. 8% fühlen sich zu jung und ebenso viele berichten über einen entsprechenden Druck der Eltern. Ihre Arbeitsumstände sehen 5,7% als Problem, fehlende Unterstützung 3,5%, und 3,4% geben an, nicht genügend Zeit für ein Kind zu haben.
Die geographische Verteilung zeigt ein eindeutiges Bild. 2007 gab es auf 100 Geburten 101,2 Abtreibungen im nordöstlichen Landkreis Ida-Virumaa, wo vorwiegend russischstämmige Menschen leben und die wirtschaftliche Situation wenigstens als problematisch bezeichnet werden muß. 82,2 davon wurden auf Wunsch der Frau vorgenommen. Noch 1996, als die soziale Lage komplizierter war, kamen sogar 207,7 Abtreibungen auf 100 Geburten, davon 188,8 auf Wunsch der Frau. Der estnische Durchschnitt beträgt 70,5, davon 56,3 auf eigenen Wunsch. Der Unterschied zwischen Stadt und Land verschwindet, wenn auch die niedrigste Rate mit 28,8 auf der zweitgrößten Insel Hiiumaa verzeichnet wurde.
Nichtsdestotrotz wurden 2007 mit 8.900 so wenig Abtreibungen verzeichnet wie nie vorher seit der Unabhängigkeit. 1992 waren es 25.803 in einem Land mit damals etwa 1,5 Millionen Einwohnern.
Die Wirtschaft während er sowjetischen Zeit war weniger auf Dienstleistungen als auf Produktion ausgerichtet und diese war im Vergleich mit dem Westen wenig technisiert und deshalb eine arbeitsintensive. Da wenigstens ideologisch die Gleichstellung der Frau propagiert wurde, waren diese auch in Berufen beschäftigt, wo sie in westeuropäischen Gesellschaften kaum zu finden sind. Das fällt auch nach der Wende ausländischen Beobachtern meist schnell auf: Trolleybusse und Straßenbahnen werden überwiegend von Frauen gefahren.
Aber nicht nur darin unterscheidet sich die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Wegen der offiziellen und faktischen Gleichstellung, aber auch wegen der diktatorischen Herrschaft, die staatsbürgerliches Engagement nicht erlaubte, gab es in der Sowjetunion nie eine Frauenbewegung. Entgegen der bedeuteten Rolle der Frauen im Wirtschaftsbetrieb und oftmals als Manager ihrer Familie, hat sich ein archaisches Rollenbild der Geschlechter erhalten. Auch dies bemerken Ausländer schnell, daß die Damen im Alltag so viel wert auf ihr Äußeres legen wie in westlichen Gesellschaften nur zu bedeutenderen Anlässen. Bei längerer Beobachtung wird schnell deutlich, daß für die Frauen angesichts des männlichen Rollenverständnis die Verbindung von Beruf und Haushaltsführung der Normalfall ist.
Dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte eine Wirtschaftskrise und sozialer Niedergang, aber er brachte ebenso die Unabhängigkeit und neue Möglichkeiten.
Ausland und Ausländer als Ausweg?
Nach der Unabhängigkeit suchten viele Frauen ihr Heil in einer Verbindung mit einem westlichen Ausländer, zunächst häufig Finnen. Diese bilden allein wegen der geographischen Nähe den größten Anteil der touristisch oder geschäftlich in Estland reisenden Westler. Und dank der Empfangsmöglichkeit des finnischen Fernsehens schon während der Sowjetzeit war den meisten Esten diese eng verwandte Sprache geläufig. Die Attraktivität eines finnischen Partners minderte später der schlechte Ruf dieser Nation. Zu viele Finnen besuchten Estland vorwiegend wegen des günstigen Alkohols. Außerdem kamen als alternative Klientel Besucher zunehmend aus anderen westeuropäischen Staaten und aus Übersee.
Die Verbindung mit einem Ausländer bedeutet für die Frauen meistens früher oder später die dauerhafte Übersiedlung in ein anderes Land, denn die wenigsten Fremden übersiedeln auf Dauer nach Estland. Sie besuchen das Land meist nur zu Terminen oder leben als Vertreter ausländischer Firmen und Organisationen nur für einige Jahre an einem Einsatzort, um anschließend wieder versetzt zu werden. Für Vertreterinnen einer Nation, die gerade erst ihre Unabhängigkeit wiedergewonnen hat, ein schwerer Schritt, der mit dem Wechsel in eine andere Sprache einhergeht, denn das Estnische erlernen die wenigsten Ausländer. Trotzdem sind sie für einheimische Frauen eine so attraktive Partie, daß selten ein zeitweise nach Estland übersiedelter Ausländer lange alleinstehend bleibt. Keine Einheimische zur Frau nehmen meist nur jene, die bereits verheiratet sind.
Traditionelles Denken und Erhalt der Tradition
Ein Bestandteil des traditionellen Rollenverständnis ist der Kinderwunsch. Und damit wird der Erhalt der Muttersprache im Ausland und die Weitergabe an den eigenen Nachwuchs zum Thema. Viele im Ausland verheiratete Frauen lesen ihren Kindern vor, hören gemeinsam Kassetten und schauen Filme. Nichtsdestotrotz ist zu beobachten, wie die Kinder auf dem Weg zur Schule, so wird ein Beispiel aus New York beschrieben, die ersten Blocks noch mit Mama Estnisch sprechen, aber zehn Minuten später dann doch ins Englische wechseln. Eine mit einem deutschen verheiratete Estin, die mittlerweile in die USA umgezogen ist, mußte sich von ihrem elfjährigen Sohn fragen lassen, warum er in einer Sprache reden solle, die keiner seiner Freunde verstünde. Die Mutter antwortete ihm mit der Gegenfrage, wie er sonst mit seiner Großmutter kommunizieren wolle. Besonders schwierig wird es nach einhelliger Erfahrung, sobald die Kinder die Schule besuchen. Dann tritt die im Lande nicht gesprochene Muttersprache des einen Elternteils in den Hintergrund.
Das Rezept einiger Mütter dagegen ist, sich taub zu stellen. Ansonsten, so argumentieren sie, lernen die Kinder die Sprache nur passiv, verstehen sie, aber antworten doch in der anderen Sprache. Nicht immer ist dieses Vorgehen erfolgreich, weil manche Kinder darauf mit Trotz reagieren.
Aber manche Frauen berichten auch über innerfamiliäre Konflikte. Väter und Schwiegereltern fühlen sich mitunter ausgegrenzt, wenn Mutter und Kinder in ihrer Gegenwart in einer für sie unverständlichen Sprache kommunizieren. In manchen Familien ist der Gebrauch der Muttersprache der Mutter darum sogar verboten. Doch auch wenn es gelingt, die Muttersprache an die eigenen Kinder weiterzugeben, wird es in der dritten Generation zunehmend schwierig.
Traditionelles Denken und sowjetische Traditionen
Doch nicht alle Frauen können sich aus Patriotismus vorstellen, die Ehe mit einem Ausländer einzugehen und ihre Heimat zu verlassen. Einigen ist es vielleicht auch nicht gelungen, den entsprechenden Partner zu finden. So gab es gerade in den ersten Jahren nach dem Umbruch leider auch tragische Geschichten von Frauen, die ihr Geld in der Prostitution verdienten und sich dabei etwa mit AIDS infizierten. Sextourismus ist inzwischen vor allem auch im benachbarten Lettland ein Thema.
Neben den üblichen Gründen, sich diesem Risiko auszusetzen, wirkt hier ein vom Westen grundlegend abweichender Umgang mit Sexualität während der Sowjetzeit nach, der sich in der postsozialistischen Gesellschaft noch heute in einer über dem europäischen Durchschnitt liegenden Zahl von Abtreibungen wie auch im sozialen Profil der Patientinnen manifestiert. Während in westlichen Staaten die wenigstens Abtreibungen von Frauen gewünscht werden, die Familien haben und über 40 Jahre alt sind, sei es in Estland genau umgekehrt, so die Gynäkologin Kai Haldre. 71,4% der Frauen haben bereits wenigstens ein Kind und für 60,3% ist es nicht die erste Abtreibung. Das durchschnittliche Alter der Frauen beträgt 28,3 Jahre. Sie verfügen zumeist die über eine dem deutschen Realschulabschluß vergleichbare teils auch berufsspezifische Mittelschulbildung. Der Anteil mit Hochschulbildung ist seit 2001 von 9,5 auf 14,3% gestiegen. Die Frauen sind zu 57% berufstätig und leben zu 57% in einer festen Beziehung oder sind verheiratet. Sehr viele Patienten wollten irgendwann später noch einmal Kinder, so Heldre und erklärt dieses Verhalten mit fehlendem Vertrauen in Verhütungsmittel.
Ursächlich für diese beinahe als Ignoranz gegenüber der eigenen Gesundheit zu bezeichnende Haltung wie auch die Abwesenheit im Westen regelmäßig diskutierter moralischer Bedenken ist die Sowjetzeit. Im Gegenteil zu vielen westlichen Ländern, wo Abtreibungen erst in den 70er Jahren legalisiert wurden, wurden Abtreibungen hier ähnlich wie in anderen sozialistischen Bruderstaaten nicht besonders eingeschränkt. Die Zugänglichkeit von Verhütungsmitteln war es hingegen wohl, entsprechende Präparate geradezu verboten, wie Haldre sich ausdrückt. In den postsozialistischen Ländern wurden sie erst in den 90er Jahren verbreitet. Auch eine Sexualerziehung auf westlichem Niveau fehlte in der Sowjetzeit.
So ist es für Haldre nicht Ungewöhnliches, wenn eine Patientin in ihrer Praxis angibt, ihre Mutter habe gesagt, daß Verhütungstabletten gesundheitsschädigender seien als eine Abtreibung. Noch verbreiteter sind zweifelhafte Verhütungsmethoden. So haben nach eigenen Angaben 57,4% der Patientinnen, die eine Abtreibung wünschten, zwar in irgendeiner Form zu verhütet versucht, von denen sich 34,9% nur auf die Unterbrechung des Beischlafes verließen.
Derart unsichere Methoden sind in Estland, wie Haldre bedauert ganz im Gegenteil zu den nordischen Ländern, mit denen Estlands politische Elite sich gerne assoziiert, um sich von Osteuropa oder dem postsozialistischen Raum zu distanzieren, verbreitet. Die Ärztin ist sich unsicher, was in den Praxen, aber auch in den Köpfen der Betroffenen vorgeht, wenn weniger als ein Viertel der Frauen vor und nach der Wunschäußerung, eine Abtreibung vorzunehmen, sich mit Verhütung beschäftigen.
Als Gründe für die Abtreibung geben 37,2% der Frauen wirtschaftliche Probleme an, 23% vertrauen der Zukunft ihrer Partnerschaften nicht, respektive 11,9% möchten kein Kind von dem biologischen Vater. 17% beklagen eine zu kleine Wohnung und 16% wollen ihre Ausbildung erst beenden. Die Bereitschaft zur Erziehung fehlt 16,8% der Frauen und 11,1% sehen sich generell nicht als Mutter. 10,4% der Frauen möchten die Alleinerziehung vermeiden. 8% fühlen sich zu jung und ebenso viele berichten über einen entsprechenden Druck der Eltern. Ihre Arbeitsumstände sehen 5,7% als Problem, fehlende Unterstützung 3,5%, und 3,4% geben an, nicht genügend Zeit für ein Kind zu haben.
Die geographische Verteilung zeigt ein eindeutiges Bild. 2007 gab es auf 100 Geburten 101,2 Abtreibungen im nordöstlichen Landkreis Ida-Virumaa, wo vorwiegend russischstämmige Menschen leben und die wirtschaftliche Situation wenigstens als problematisch bezeichnet werden muß. 82,2 davon wurden auf Wunsch der Frau vorgenommen. Noch 1996, als die soziale Lage komplizierter war, kamen sogar 207,7 Abtreibungen auf 100 Geburten, davon 188,8 auf Wunsch der Frau. Der estnische Durchschnitt beträgt 70,5, davon 56,3 auf eigenen Wunsch. Der Unterschied zwischen Stadt und Land verschwindet, wenn auch die niedrigste Rate mit 28,8 auf der zweitgrößten Insel Hiiumaa verzeichnet wurde.
Nichtsdestotrotz wurden 2007 mit 8.900 so wenig Abtreibungen verzeichnet wie nie vorher seit der Unabhängigkeit. 1992 waren es 25.803 in einem Land mit damals etwa 1,5 Millionen Einwohnern.
Zurück in die Zukunft?
Und es gibt noch eine dritte Gruppe. Frauen, die tatsächlich ins Ausland gezogen sind, dort eine Familie gegründet, sich später aber wieder von ihrem Partner getrennt haben. Je nachdem, an welchem Ort sich die Kinder zu diesem Zeiptunkt befinden, entwickeln sich die Konflikte über das Sorgerecht und den Aufenthaltsort des Kindes wie auch die Rechte des anderen Elternteils, so berichtet die Referentin für internationale Rechtshilfe des Justizministeriums, Marju Kern.
Mitunter eskaliert der Streit so weit, daß ein Kind sogar von einem Elternteil entführt wird. Kern berichtet von dem Fall eines Norwegers, der sein Kind von der in Pärnu lebenden einfach mit in die Heimat nahm. Während die Mutter ihren Ex-Partner der Vergwaltigung, des Kontrollwahns und noch schlimmerer Verbrechen beschuldigte, versuchte der Vater die glücklichen Lebensumstände des Kindes mit einem Video zu beweisen. Darüber berichteten die Medien in der Sendung Pealtnägija. Während sich die norwegischen Behörden hinter ihren Staatsbürger stellten, unterstützten die estnischen die Mutter. Nach Kerns Aussagen hilft der Gang in die Öffentlichkeit überhaupt nicht, denn die Behörden im Ausland interessieren sich nicht für die Darstellung der Medien in Estland.
Wenn ein Kind in ein anderes Land gebracht wird, bevor sich die Eltern über das Sorgerecht geeinigt haben, dann wird per Gericht die Rückführung in das ursprüngliche Aufenthaltsland beschlossen, wo sich das dortige Gericht mit der Frage befaßt. So etwas kann, so Kern, zwei bis vier Jahre dauern. Sie empfiehlt deshalb, vor einem endgültigen Urteil das Kind eben nicht in ein anderes Land zu bringen, denn per Gerichtsbeschluß die Kinder von einem ins andere Land hin und her zu überführen, sei alles andere als eine angenehme Angelegenheit.
Da nach Kern allein die estnische Staatsbürgerschaft des Kindes als Grund nicht ausreicht, daß es künftig in Estland lebt, bedeutet im Klartext, daß juristisch gesehen die Hoffnung einer im Ausland lebenden Estin, nach der Trennung vom Partner mitsamt Kind in die Heimat zurückzukehren eher gering ist. Andererseits, so Kern, verliert im Laufe der Zeit und über Gerichtsprozesse mitunter auch ein Elternteil die Lust daran, diese Prozedur bis zum Ende auszufechten.
Was Kindererziehung im Ausland angeht, es ist nicht immer so, dass die Frauen komplett auf sich alleine gestellt sind, was die Sprach- und Kulturweitergabe angeht. In München gibt es z.B. Kindergruppen, wo Estnisch gelehrt wird. Mir ist klar, dass das eher die Ausnahme, als die Regel ist, wollte trotzdem nicht unerwähnt lassen.
AntwortenLöschenNicht nur dort. Es gibt auch Mail-Listen sowohl bei den Esten als auch bei den Letten.
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