Dienstag, Juni 30, 2020

Besuch in Saksamaa

... einmal wenigstens die
Präsidentin mit dem Logo
im Hintergrund ... -
puuh, geschafft!
(Skeletontech)
Eigentlich ist es ja nur ein Gerücht - die Est*innen würden nur die Sachsen kennen, keine Deutschen (estnisch Deutschland = Saksamaa). Aber der Besuch der estnischen Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid dieser Tage speziell in Sachsen diente sicherlich einem doppelten Zweck: zum einen gibt es dort mit der "Skeleton Technologies GmbH" eine Firma mit Investoren aus Estland. Die Firma will "Blitzakkus für Hybridautos" bauen - wir lassen uns überraschen. "E-Estonia" baut also ganz auf E auch im Deutschland der Zukunft: E-Autos, E-Busse, e-ben immer noch etwas mehr. Wir lernen zumindest: in "Großröhrsdorf" werden also nicht die Röhren für die Ostsee-Gaspipeline gebaut, sondern Hochleistungs-Energiespeicher.

Dass es auch der erste Staatsgast war, den Bundespräsident Steinmeier seit Ausbruch der Corona-Krise empfing, gereit da in der bundesdeutschen Presse eher zur Nebensache. Klar ist aber, dass international derzeit ein Besuch der Staatspräsidentin Estland wesentlich willkommener geheißen wird als eine Auseinandersetzung über die Politik der estnischen Regierung. Der Schmusekurs von Regierungschefs Ratas mit der rechtkonservativen EKRE erzeugt weiterhin eher Kopfschütteln und Stirnrunzeln. Etwas voreilig die estnische ERR vielleicht, die schon von einem "Post-Corona-Besuch" schrieb.
Präsidentin, Bewunderer:
zusammen für digitales Saksamaa
So aber feiert sogar das "Neue Deutschland" Kaljulaid als "weltoffen" und erklärt sich zum Fan ihres Pullovers mit den Worten "SÕNA ON VABA" / "Das Wort ist frei". ("Bei uns bestellt!" postet das PG-Stuudio stolz). Keine Überraschung, dass in den Medien die üblichen Stichworte fallen: Estinnen und Esten gelten eben als "medienaffin",  und auch die Cybersicherheit sieht man im estnischen "Cybersecurity center" der NATO gut verankert.

Da helfen auch Schlagzeilen, die noch einen drauf setzen: "Digitale Lösungen sind sicherer als Papier"  titelt die "Sächsische". Und Frau Präsidentin wagt sich sogar an Ratschläge für Deutschland: "Jeder Deutsche muss selbst anfangen, seine digitale ID zu aktivieren, die Deutschland ja nun eingeführt hat, und digitale Dienstleistungen etwa in der öffentlichen Verwaltung zu nutzen," meint Kaljulaid, "Es liegt in der Hand der Bevölkerung und der Privatwirtschaft selbst, dies voranzubringen." (Sächsische)

Fahrradgenuß mit Teppich und Kronleuchter:
Fahr es besser draußen, Frank Walter!
Ein anderer Grund für einen Besuch speziell in Sachsen ist vielleicht auch, weil sowohl von Seiten der sächsischen Wirtschaft, in überraschender Übereinstimmung mit Linken und AFD, Stimmen für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland zu hören sind - dem widerspricht Kaljulaid energisch.

Weniger im Fokus der Presse war, dass Kaljulaid auch "Amplerbikes" in Berlin besuchte, eine kleine Rundfahrt auf dem E-Bike machte ("Urbane E-Bikes aus Estland"), und sogar Gastgeber Hans-Walter dann ein eben solches zum Geschenk machte.

Im Schatten der Aufmerksamkeit steht derweil das 100-jährige Bestehen der Botschaft Estlands in Berlin - eben wegen den Beschränkungen in der Krise. Das genaue Jubiläumsdatum, der 15. Mai, fiel mitten in die Corona-Krise (siehe: "Geschichte der Botschaft"). "Wir sind glücklich, diese alte Doppelvilla in Berlin zu haben," schreibt Botschafter Alar Streiman, der sein Amt in Berlin Ende 2019 angetreten hatte.

Donnerstag, Juni 11, 2020

Coranse Brilon

Hansetage Brilon 2020 - die Besucherbank
blieb leer - und das virtuelle Notprogramm
war dafür kein Ersatz 
Die Briloner Waldfee war einer der Gäste zu den Internationalen Hansetagen in Tartu 2005, in Pärnu 2010 ebenfalls - aber ob Estinnen und Esten damals wussten, wo dieses Städtchen überhaupt zu finden ist? Zum Hansetag 2015 in Viljandi schickten die Sauerländer einen Trupp Jagdhornbläser. Auch 1992 fand in Tallinn schon ein Hansetag statt - und damit wären es insgesamt vier Gelegenheiten für die Briloner gewesen, estnische "Hansepartner*innen" zu besuchen.

Die Gelegenheit für Estinnen und Esten, die Stadt der Wälder und der Esel (Wappentier!) zu besuchen, musste für 2020 aufgegeben werden.Der Internationale Hansetag, geplant für den 4.-7. Juni 2020 in Brilon, fiel weitgehend aus.

Erstaunlicherweise war für genau dasselbe Wochenende auch in Viljandi ein Hansetag geplant - der ebenfalls ausfallen musste. Im Gegensatz zur internationalen Variante, wo schon über 10 Jahre vorher die Gastgeber*innen feststehen, findet der "Hansetag" in Viljandi jedes Jahr am ersten Juniwochenende statt, die Interessierten können auf 2021 vertröstet werden. Gleichartiges gilt auch für Pärnu oder Tartu, wo der örtliche Hansetag im Juli begangen wird. Da liegt für Est*innen und Esten vermutlich näher, den Ausfall ihrer estnischen Hansetage zu bedauern, als eine Fahrt nach einer unbekannten deutschen Kleinstadt zu wagen. Und auch das estnische Wikipedia kennt nur die vier Hansetage (Hansepäevad) seit 1992, die in Estland stattgefunden haben. Und "Visitestonia" bewirbt, selbstverständlich, ebenfalls nur Ereignisse innerhalb Estlands.

Tja, von einem Land aus gesehen, wo die Ostsee "Westsee" heißt, reicht der hanseatische Blick wohl vor allem bis Lübeck und Stralsund, vielleicht noch bis Hamburg. Wollen wir etwas estnisch üben? "nagu ikka hansalaat" spricht nicht etwa abwertend von der momentanen Krise ("so ein Salat"?), sondern meint schlicht: "Wie immer hanseatisch".

Der Briloner Bürgermeister, wohl kraft seines Amtes, hat da eine andere Wahrnehmung. „Je länger wir uns von 2020 entfernen, umso historischer werden diese ersten virtuellen Hansetage werden“, so läßt sich Brilons Bürgermeister zitieren ("Sauerlandkurier"). Nun ja, lieber Herr Bürgermeister: so geht das grundsätzlich mit allen Ereignissen.

Esel in Brilon - ein Nutztier
mit Tradition
Oder vielleicht ist es ja gar nicht richtig, dass von Estland aus Brilon nicht bekannt ist? Wir entdecken merkwürdige Berichterstattung der deutschen Lokalpresse. "Litauerinnen und Estländerinnen haben großen Anteil an Gewerbeanmeldungen von Ausländern in Brilon" - so eine Schlagzeile. Von 399 Gewerbeanmeldungen sollen 2016 demnach allein 100 aus Litauen und Estland gewesen sein. In diesem Zusammenhang erfahren wir erstaunt, dass es im katholischen Brilon gleich drei Bordelle gibt, und die hier gezählten Personen sind offenbar fast ausnahmslos Prostituierte. 

Nein, es gibt Themen, die Brilon offenbar unangenehme Fragen erzeugen. So auch, dass 1938 bei den Reichtagswahlen 95,5% der Briloner für die NSDAP stimmten. Auf einem Gedenkstein nahe der Innenstadt steht ist der Satz zu finden: "am 9.November 1938 wurde die Synagoge bei den folgenschweren Ausschreitungen durch ein Feuer zerstört." Wundersam, wundersam. Der Gedenkstein wurde übrigens nicht durch die Stadt Brilon aufgestellt, sondern durch eine Vereinigung der Stadtführer*innen. Nüchtern beschreiben die Tafeln, dass die Ruinen "anschließend abgetragen" wurden, und man erfährt auch, dass nach dem Synagogenbrand 15 Männer verhaftet wurden - allesamt Juden, 11 davon landeten im KZ (Wikipedia). 


Sie meinen, dass alles gehört nicht zum Thema Hansetag? Nun ja, wir stellen zunächst nur fest: dies alles ist sichtbar für Menschen, die mit offenen Augen durch Brilon laufen. Und bei einer Durchführung der Hansetage hätten das ja wohl Zehntausende Besucher*innen gemacht. Nein, wir behaupten ja gar nicht, dass in dieses Bild auch die Musik-CD passt, die von den Briloner Verantwortlichen in "Überraschungstüten" am 7.Juni ausschließlich an Autofahrer verteilt wurde: 17 Mal Marschmusik, Blasmusik und Jagdfanfaren. Oder, anders gesagt: Tirol, Böhmen, Bayern, Alpenglühen - umgearbeitet für Sauerländer Ohren. Wir ahnen: irgendwie stellten sich die Eselstädter einen Hansetag einfach wie ein ziemlich großes Schützenfest vor. 

Und wie stellen wir uns den nächsten Internationalen Hansetag vor? Verschoben werden konnte nichts, denn die jährlichen Ausrichter stehen ja bereits seit vielen Jahren fest. Die Wiederholung einer "Coranse" wünschen wir niemand. Was ein "digitaler Hansetag" ist, und ob es auch interaktive digitale Angebote geben kann, das werden die Hanse-Aktivisten ja noch lernen. 2021 werden die estnischen Hansestädte es leichter haben, in Riga teilzunehmen (und vermutlich nicht mehr parallel eigene Hansetage planen). 

Eindrücke Hansetage 2020, Teil 3
Eindrücke Hansetage 2020, Teil 2
Eindrücke Hansetage 2020, Teil 1