Nur noch wenige Tage sind es, bis in Estland ein neuer Präsident
gewählt wird. Tatsächlich? So wird sich mancher fragen, der in den
letzten Wochen immer wieder Präsident Ilves bei verschiedenen
öffentlichen Anlässen zugeschaut hat. Ilves, seit dem 9. Oktober 2006
Präsident der Republik Estland, sorgt regelmäßig in der Presse für neue
Geschichten, und im Internet für Selfies und
Twittersprüche.
Wer 75.000 Follower auf Twitter hat, und selbst auch schon mehr als
19.000 Twittersprüche abgesetzt hat, der kann sich wohl mit Recht
"Twitterpräsident" nennen lassen.
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Präsident Ilves bei seiner Vereidigung im Oktober 2011 |
Erst kürzlich machte eine Auseinandersetzung mit
einem US-Amerikaner Schlagzeilen, der wohl nicht so recht wusste, mit
wem er es zu tun hatte (
Huffington Post). Oder auch mit
Nobelpreisträgern legte
sich Ilves bevorzugt (und öffentlichkeitswirksam) per Twitter an. Also,
ob nun durch Scheidung und dritte Heirat, durch Selfies auf
Musikfestivals, oder als eifrigen Nutzer von Technologien, die in
Estland erfunden und entwickelt wurden - Toomas Hendrik Ilves war
multimedial sehr präsent.
So gut wie nichts ist dagegen
bisher über die erste Runde der Präsidentschaftswahlen außerhalb
Estlands bekannt - die erste Runde wird bereits am 29. August
stattfinden. Offiziell endet die zweite Amtsperiode von Ilves am
10.Oktober, daher bleibt noch Zeit auf weitere Wahlgänge zu warten. Die
101 Abgeordneten des estnischen Parlaments sind am 29. August
aufgerufen, sich für eine oder einen der nominierten Kandidat/innen zu
entscheiden. Erhält niemand die 2/3 Mehrheit (68 Stimmen oder mehr),
wird es am 30. August eine zweite Wahlrunde geben. Ergibt sich auch dann
noch keine Entscheidung, wird eine dritte Wahlrunde angesetzt mit nur
noch den beiden stimmenstärksten Kandidat/innen der zweiten Runde, aber
mit derselben Voraussetzung: 68 Stimmen (siehe
Infos estnische Wahlkommission).
Ergibt auch das noch keine Entscheidung, wird etwa ein Monat vergehen,
bis ein erweitertes Wahlgremium zusammengerufen wird, zu dem zusätzlich
234 Vertreter der Regionen zusammengerufen werden, also insgesamt 335
Personen. Hier gilt dann die einfache Mehrheit (Info zu
bisherigen Wahlergebnissen).
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Immer vorteilhaft für's Kandidaten- dasein: sich rechtzeitig in den Nationalfarben kleiden (hier: Kaljurand) |
Wer steht zur Wahl? Zur Nominierung braucht es die
Unterstützung von mindestens 21 Abgeordneten.Nun, der staatliche
estnische Nachrichtendienst
ERR hat
die amtierende estnische Aussenminsterin Marina Kaljurand, die am 6.
September 54 Jahre alt wird, bereits zur "idealen Kandidatin"
ausgerufen: offiziell ist sie keiner Partei besonders nahe, aber falls
der offizielle Kandidat der regierenden Reformpartei, Ex-EU-Kommissar
Siim Kallas, scheitern sollte, gilt sie als ideale Wahl besonders für
die zweite Wahlrunde. Ihr Ruf als Diplomatin und "estnische
Freiheitskämpferin" wurde vor allem 2007 begründet, als sie während der
Unruhen rund um die plötzliche Versetzung des Bronzesoldaten in Tallinn
estnische Botschafterin in Moskau war und dort von russischen
Nationalisten angegriffen wurde (
delfi); daher gilt Kaljurand (geborene
Marina Rajevskaja) als
Kandidatin mit großer Unterstützung unter den Estinnen und Esten - auch
wenn es in Estland keine Direktwahl des Präsidenten gibt. Ihre Mutter
ist Russin - das setzt sie zwar der Kritik der Rechten aus; aber: eine
Frau als Präsidentin - das würde ein wenig dem entgegen wirken, dass
zwar zwei Drittel aller Universitätsstudenten weiblich sind, die
Parlamentssitze aber nur zu 1/4 von Frauen eingenommen werden.
Siim
Kallas, nominiert von der Reformpartei, kann sicherlich als politisches
Schwergewicht mit viel Erfahrung gelten, vor allem in Wirtschafts- und
Finanzfragen. Als "Anti-Griechenland-Modell" kennzeichnet
ERR das,
was er für Estland vertritt. Sein Nachteil ist vielleicht, dass er als
Bestandteil der estnischen Elite gilt - und das schon sehr lange. Müsste
er vom Volk gewählt werden, wäre seine Wahl ziemlich unsicher. Zudem
ist er eben nicht der Kandidat der Jugend (er wird am 2. Oktober 69
Jahre alt), und wohl auch nicht der russischsprachigen Minderheit. Es
gibt allerdings auch Vermutungen, denen zufolge er unter anderem deshalb
als Kandidat benannt wurde, weil die Reformpartei verhindern wollte
dass Kallas nach seiner Rückkehr aus Brüssel eine eigene, neue Partei
gründet. Ob es da hilfreich ist, nur für eine Amtszeit kandidieren zu
wollen?
Mailis Reps (41), die Kandidatin der
oppositionellen Zentrumspartei und Mutter von fünf Kindern, wurde
relativ überraschend aufs Schild gehoben. Das hat vielleicht damit zu
tun, meinen die Kommentatoren der
ERR,
dass manch andere Führungsfigur dieser Partei, die sich immer gern als
Vertreterin der Interessen auch der Russen in Estland ausgibt, als zu
kontrovers und umstritten galten. Die ehemalige Bildungsministerin ist
also die zweite Kandidatin neben Marju Kaljurand die es schaffen könnte,
als erste Frau estnische Präsidentin zu werden. Da sie mit dem
lettischen Juristen Agris Repšs verheiratet ist, würde sie für die
lettisch-estnische präsidiale Verbindung eine Fortsetzung darstellen -
diesmal anders herum.
Dann gibt es noch Allar Jõks
(51), Kandidat der kleineren rechtsgerichteten Parteien "Pro Patria",
"Res Publica Union (IRL)" und "Vabaerakond" (Freie Partei). Als
Ex-Richter gilt er als "Law and Order"-Kandidat, auch als Kandidat
derjenigen, die keinen linken, aber auch keinen Kandidat der bisherigen
Elite wählen wollen. Er spricht sich für mehr Transparenz in der Politik
aus. Die
ERR-Kommentatoren
notieren jedoch auch, dass er auf der einen Seite zwar wichtige
Erfahrungen einbringen könnte wenn es um juristische Fragen geht, aber
andererseits auch schon durch sexistische Witze auffiel, was nicht jeden
störte, aber fragen aufwirft was das erwünschte Benehmen eines
Präsidenten angeht.
Ob der estnische Rechtsaußen Mart
Helme (66), ein Donald-Trump-Fan, als Kandidat seiner EKRE-Partei
(Konservative Volkspartei) wirklich Chancen hat, muss abgewartet werden.
EKRE-Ehrenvorsitzender ist immerhin Ex-Präsident Arnold Rüütel.
Bleibt noch Eiki Nestor, Kandidat der sozialdemokratischen Partei, mehrfacher Ex-Minister, wird am 5.September 63 Jahre alt.
ERR stuft
ihn als Kandidat der eher traditionellen Statur ein, Vaterfigur und
"elder Statesman". Eher vom Typ Arnold Rüütel als Hendrik Ilves. Von ihm
würde man sicher keine skandalösen Tweets auf Twitter erwarten
(befürchten) müssen, aber soll man sich einen unauffälligen, ehrenhaften
Präsidenten wirklich wünschen? Die Wahlrunden werden zeigen, wo die
Vorlieben liegen, und welche Wahlkoalitionen sich vielleicht bilden.
Wahrscheinlich ist, dass Ilves Estland noch ein paar Woche erhalten
bleibt - bis zum Oktober.