Montag, April 22, 2013

Estland zum Beispiel

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der estnische Regierungschef Andrus Ansip loben sich gerne gegenseitig - soviel haben wir gelernt in der vergangenen Woche. Oder, wie es bei "Reuters" nachzulesen ist: "Deutschland und Estland preisen sich als Modelle der EU".
Aus deutscher Sicht mögen ja die Presseerklärungen und das Selbstlob, was Politiker bei solchen Anlässen gern verbreiten, eher nebensächliche Bedeutung haben - vielleicht ist es in den Augen der deutschen Öffentlichkeit bestenfalls eine Anerkennung dafür das Estland inzwischen nicht mehr ganz unbekannt ist in Europa. Estland seinerseits arbeitet daran in Deutschland nicht als eines derjenigen Länder gesehen zu werden, die "nur an unser Geld wollen", wie es Kritiker der EU-Erweiterung manchmal sagen.
Wie "typisch estnische Schlagzeilen" liest sich da der Estland Bericht den die WAZ am 12.4. brachte: "Ein Besuch in der ersten Internet-Republik". Gäbe es ein Land wie Estland nicht - denken sich dabei vielleicht die Leser - so könnte es auch virtuell erfunden sein. Die deutsche Seite fügt das Thema Datensicherheit hinzu - und schon kann die Diskussion ziemliche Längen einnehmen.

Regierungsmüde? Wir nicht.
Wer nur ein Jahrzehnt zurückschaut wird aus estnischer Sicht vielleicht feststellen, dass fast  "nebenbei" nun Wirklichkeit geworden ist, was Estland ebenso wie Lettland und Litauen anzustreben versuchten: noch vor wenigen Jahren fanden deutsch-estnische Treffen fast nur "auf dem Weg zu" statt. Kurz vor Treffen mit russischen Politikern meistens, oder vor Gipfeltreffen mit osteuropäischen Themen. Heute hat ein deutsch-estnisches Treffen seine eigene Agenda. Das ist anerkennenswert, auch aus Sicht der deutschen Politik, und empfehlenswert auch für zukünftige Regierungschefs. Da bleibt das sogenannte "Baltikum" allenfalls der Wetterkarte vorbehalten - von Estland ist die Rede.

Die gewählten Schwerpunktthemen entsprechen natürlich den politischen Prägungen der beiden Hauptakteure. Ansip, wie Merkel naturwissenschaftlich ausgebildet (er Chemiker, sie Physikerin), hat ebenfalls Erfahrung mit einer ungewöhnlich langen Amtszeit als Regierungschef: seit April 2005 ist er ununterbrochen Estlands Ministerpräsident, und damit ein paar Monate länger noch als seine deutsche Kollegin. Und da Estland momentan mit der Einführung des Euro noch einen Schritt mehr gewagt hat als seine südlichen "baltischen" Nachbarn, kann in den entsprechenden Presseerklärungen auch allein vom "Modell Estland" die Rede sein. Ansip seinerseits stellt sich deutlich an die Seite Deutschlands und Merkels, wenn er sagt: "Ich bin davon überzeugt, dass meine Kollegin Angela Merkel nicht nur Deutschland gut führt, sondern sie ist auch eine gute Führungskraft für die ganze EU. Ich bin davon überzeugt, dass sie in der Europäischen Union auch Estland vertritt. " (siehe: Pressekonferenz 17.4.)

Estland für die Wirtschaft, Estland für die Bayern
Nun könnte man spitzfindig sein und sagen: nun ja, Russland liegt ja auch außerhalb der EU, und die Esten behalten es sich vor, zum nahen Nachbarn im Osten eine eigene Meinung zu haben. Hierzu gäbe es in der CDU sicherlich verschiedene Meinungen: wenn Putin gerade bei einem wichtigen Wirtschaftstreffen wie der Hannover-Messe stürmisch kritisiert wird sind die meisten CDU-Wirtschaftspolitiker wahrscheinlich doch eher peinlich berührt. Ansip sagte hierzu nichts - er wurde aber auch nicht danach gefragt. Lieber erklärte er den Ausbau der Bahnstrecke nach Estland ("Rail Baltica") für wichtig für alle drei baltischen Staaten (im Wissen, dass zumindest Lettland bei diesem Thema momentan sehr zögerlich agiert). Oder der Ausbau der Verbindungen im Energiesektor sei vordringlich. Wie schon bekannt.
Nur die vom Büro des Regierungschefs in Estland verbreitete Meldung enthält sehr feine Kritik, wenn man das denn so lesen möchte: Deutschland rangiert bei den Investitionen in Estland "nur" auf Rang acht, aus der Sicht Estlands ist Deutschland Handelspartner Nr.5, beim estnischen Außenhandel hält Deutschland einen Anteil von 7,5%. Und der Anteil deutscher Touristen in Estland stieg (gemäß statistischen Daten) im dritten Jahr in Folge an und liegt jetzt bei 111.251 deutsche Gäste in Estland im Jahr 2012; auch das kann sicherlich noch mehr werden - lediglich 6% der Übernachtungen in Estland buchen deutsche Touristen, und sehr viele übernachten selten außerhalb von Tallinn, und sehr wenige buchen mehr als zwei Übernachtungen.

Selbstdarstellung in weiß-blau: Bayern prägt
dieses Jahr das Deutschland-Bild in Tallinn
Auch Ansip besuchte ja diesmal "nur" Berlin. In Tallinn gibt es diesertage allerdings auch genug "Deutsches" - einen "deutschen Frühling", zu dem die Deutsche Botschaft, das Goethe-Institut und das Land Bayern eingeladen hatten (Programm siehe "Saksa Kevad"). Nun distanziert sich Rest-Deutschland, besonders der nördliche Teil, ja sowieso gern von den Bajuwaren und wird wahrscheinlich eher mit dem Kopf schütteln, wenn der "deutsche" Beitrag einer Ausstellung im Kunstmuseum KUMU ausgerechnet in "bunt angemalten BMWs" besteht ("bayrische Kultur", oder schlicht "Poduct Placement"?). Den estnischen Erwartungen wird es allerdings wahrscheinlich entsprechen: Autos, Bier, "Volksmusik" und Billig-Einkauf - was soll Deutschland auch sonst bieten? Vielleicht hatten die Bayern Glück, dass sie mangels estnischer Fußball-Begeisterung nicht auch noch mit Deutschlands reichstem Fußballklub auftraten - angesichts der nun bekannt gewordenen Hoeneß-Verfehlungen. Jeder weitere Kommentar sei aber denjenigen Estinnen und Esten vorbehalten, die den "deutschen Frühling" (der meteorologisch ja eher auf sich warten ließ) miterlebt haben.

Dienstag, April 02, 2013

Blumen, Sonne, Sex und Rock'n Roll

Menschen auf der Suche nach der Frühlingssonne? Fast.
Jedenfalls ein Foto aus Estland. Teil einer neuen Ausstellung "Sowjet-Hippies - psychodelischer Untergrund im Estland der 1970er Jahre". Sex, drugs and Rock'n Roll hinter dem "Eisernen Vorhang"! Auch in Sowjet-Estland gab es sowas wie "Flower-Power" - begünstigt vielleicht durch die dünne Besiedlung des Landes, wo es natürlich viele Ausweichorte gab für das, was öffentlich nicht gern gesehen war.
Seit einigen Wochen arbeitet Kuratorin Terje Toomistu an einer Ausstellung, die zunächst mal im Estnischen Nationalmuseum in Tartu angesiedelt ist.Auch ein Dokumentarfilm ist noch in der Entstehung.
Filmteam und Protagonisten
"Als Breschnew  an die Macht kam, hatten wir nicht mehr viel Hoffnung auf ein kleines bischen persönliche Freiheit. Die Generation die in den späten 1960igern aufwuchs musste erkennen dass die Welt eine große Lüge ist - und man sich lieber mit eigenen Dingen beschäftigt als mit Politik. Die im Westen ausgelebten Freiheiten wurden verehrt, ein wenig inspiriert von östlichen Philosophien. Daher waren die Sowjet-Hiipies ein Kulturgemisch, aber immer underground.
Es war ein Trend der Zeit damals, wo durchaus auch Künstler, Lebenskünstler und Akademiker zusammen angetroffen werden konnten. "In" war Rockmusik und das Propagieren von Liebe und Pazifismus, Reisen wohin immer möglich und mit einem Outfit das absolut nicht zu einem Sowjetbürger passte. Estnische Hippies orientierten sich an ihren eigenen Frontfiguren und lasen verbotene Samiszdat-Literatur. Hosen durften nicht weiter geschnitten sein als 33cm,  einige wurden als "Landstreicher" ständig verhaftet, andere steckte der KGB auch schon mal in geschlossene Anstalten. Aber je strenger sich die Ordnungsmacht gebärte, desto mehr bekam auch die Bewegung der Blumenkinder Zulauf."
(aus dem Ausstellungstext)


Zur Webseite der Ausstellung  /  Filmtrailer