Ob Bus und Straßenbahn nun den Tallinnern sympathischer werden - wo jeder die Linien bis zur Endstation ausnutzen kann? |
In den Leserforen derselben Zeitungen fallen die Bewertungen etwas krasser aus: die positiven Stimmen loben das Vorbild und beobachten interessiert die Entwicklungen in Tallinn, heben auch die dem Verkehrsexperiment vorangegangene Volksabstimmung in Tallinn hervor.
Negativ äußern sich meist Autofahrer, die derartige "Gängelung" als Einschränkung des Autoverkehrs ablehnen. Manche scheinen auch jeglichen Kostenlos-Dienstleistungen der öffentlichen Hand zu mißtrauen und werten die Tallinner Kostenlos-Busse als "Wärmestube für Penner" ab. Andere meinen in der estnischen Maßnahme auch Bekanntes aus der DDR-Vergangenheit zu entdecken und meinen "am Ende hat der Staat nichts mehr zu verteilen und geht pleite".
174.000 Menschen in Tallinn sollen in den ersten zwei Wochen den neuen Service bereits genutzt haben, dazu kommen auch 49.000 Rentner, die auch bisher bereits freie Fahrt hatten, und die auch nicht ihren Wohnort nachweisen müssen. 570 Fahrzeuge mussten in Tallinn zuvor mit entsprechenden Lesegeräten ausgestattet werden, Anschaffungskosten pro Gerät etwa 500 Euro, Instandhaltungskosten jährlich 760.000 Euro. Die städtischen Verantwortlichen gaben erste Schätzungen zur Entwicklung der ersten zwei Wochen Praxis ab: angeblich soll der private Autoverkehr um 10-15% ab, der öffentliche Verkehr um 6% zugenommen haben.
Dennoch gibt es auch kritische Nachfragen zur Tallinner "Null-Lösung" - auch innerhalb Estlands. Der Erfolg des Modells wird sich wahrscheinlich daran messen lassen müssen, ob zu diesen Fragen Lösungen gefunden werden können.
Das erste kritische Thema ist rein technischer Art. Die meisten Estinnen und Esten besitzen bereits einen elektronischen Personalausweis, eine kleine Chipkarte. Dennoch war es nicht möglich, die in Tallinner Bussen und Bahnen eingebaute Kontrollgeräte auf diese abzustimmen - es müssen neue E-Cards beantragt werden, die Ausstellung der sogenannten "Grünen Karte" (Ühiskaart) verursacht beim Kunden Kosten in Höhe von 3 Euro. Das widerspricht ein wenig der Strategie, den Bürgern möglichst viele Wege zu Ämtern und Nutzungsfunktionen einheitlich mit dem E-Ausweis zu liefern. Andererseits hätten die E-Ausweise Lesegeräte benötigt, während das neue System "kontaktlos" arbeitet, also den Chip auch aus einigen Zentimetern Entfernung bereits erkennt. Allerdings gibt es kein Foto des rechtmäßigen Eigentümers auf dem neuen Kärtchen - so dass für den Fall der Kontrolle weitere Identitätsdokumente mitzuführen nötig sind. "Mit Foto wäre die Produktion zu teuer geworden", so die Stadtväter.
Aber sogar der estnische Datenschutz hat sich schon kritisch gemeldet: es wurden "Datenlücken" entdeckt, offenbar war es Nutzern möglich, auch an Daten anderer Nutzer zu gelangen. Während bei anderen estnischen elektronischen Neuerungen von deren estnischen Erfindern oder Produzenten immer genüßlich erläutert wird, bei Exporten ihrer Produkte nach Deutschland seien spezielle "deutsche Lösungen" möglich - vermeintliche deutsche "Übergenauigkeit" beim Datenschutz. Diesmal sind die Probleme offenbar anders gelagert. Vize-Bürgermeister Taavi Aas hatte auf entsprechende Fragen kürzlich noch eine vielleicht etwas zu einfache Antwort parat: "Niemand wird die Daten manupulieren." (ERR 4.1.13)
Tallinn macht von sich reden - ob für oder gegen fahrscheinfreies Busfahren, Hauptsache die estnische Hauptstadt ist mal wieder Diskussionsgegenstand .... |
Eine andere Kritik setzt eher politisch an: mit kostenlosen Busfahrten wolle sich Bürgermeister Savisaar erstmal bei den anstehenden Kommunalwahlen die Wiederwahl sichern, meint die politische Opposition vor allem von der Reformpartei, die ja im nationalen Parlament den Regierungschef stellt. Und nach denn Wahlen müsse man dann sehen, ob noch Geld für die dringende Auffrischung des Fuhrparks übrig sei.
Der am meisten zum Tallinner Stadtverkehr interviewte Politiker ist gegenwärtig Vizebürgermeister Taavi Aas. Er rechnet so: von den etwa 417.000 Menschen die in Tallinn leben haben 5-10% ihren Wohnsitz hier nicht offiziell registriert. Pro 1.000 Neuregistrierungen würde die Stadt etwa eine Million Euro mehr an Steuern einnehmen können (ERR 25.10.12). Wessen Rechnungen aufgehen und welche nicht, vielleicht wird es schon der Verlauf des ersten Praxisjahres zeigen.
Infos:
Gebrauchsanweisung für die "Grüne Karte" / Ticketkauf online (vom Fahrschein über die Angellizenz bis zum Massagesessel!) /Aktuelle Fahrpreisinfos Tallinn / Infos zur Tallinn Card für Touristen /
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