Ist Estland eigentlich "baltisch"? Die estnische Sprache ist ja dem Finnischen ähnlich (finno-ugrisch), und das sogenannte "Baltikum" ist sowieso ein Behelfsbegriff ohne Grundlage. Noch viel zu wenig ist in Deutschland bekannt über Kultur und Geschichte, über Politik und Gesellschaft in Estland. Die jungen Europäer in Deutschland und Estland werden die Zukunft prägen! Wir rufen auf zur Diskussion.
Dienstag, Januar 29, 2013
Alles klar Uwe!
Etwas verspätet, aber der deutsche Fußballtrainer Uwe Erkenbrecher (vormals 2. Bundesliga und Indonesien) trainiert neuerdings den Erstligaclub Tammeka Tartu. Der Titelspruch stammt aus diesem Interview im Januar:
Quelle: hier.
Und er ist nicht allein. Frank Bernhardt ist Coach von Kalev Tallinn seit Dezember 2012. Und er hat schon Erfahrung in Estland als Trainer der U 19 und U 21 in Estland.
Samstag, Januar 26, 2013
Umfragen sehen Opposition vorn
Das demoskopische Institut Emor hat gerade seine aktuellen Zahlen veröffentlicht. Die Unterstützung der Parteien hat sich dabei grundlegend verändert. Es gibt erstmalig eine deutlich Mehrheit für Parteien, die man als mehr oder weniger links bezeichnen könnte. Nach den diversen Skandalen rund um die Parteienfinanzierung und dem Rücktritt des Justizministers ist die Unterstützung des bisher stärksten politischen Kraft in der Regierung, der liberalen Reformpartei, auf nurmehr 20% gesunken. Der Koalitionspartner, die konservative Vaterlandsunion / Res Publica kommt gar nur auf 16%. Die oppositionellen Sozialdemokraten hingegen, die bereits im Frühjahr 2011 ein überraschend gutes Ergebnis bei den Parlamentswahlen erzielt hatten, werden inzwischen von 27% der Wähler unterstützt und die Zentrumspartei des enfant terrible der estnischen Politik, Edgar Savisaar, liegt mit einem Prozentpunkt darüber bei 28%. Tatsächlich stehen Wahlen erst wieder 2015 an, und freilich kann sich bis dahin viel ändern und immerhin 38% haben Emor gegenüber geäußert, daß sie sich einstweilen nicht entscheiden können. Sicher aber scheint, daß die estnischen Wähler der politischen Stabilität überdrüssig sind. Ministerpräsident Andrus Ansip ist immerhin schon seit 2005 im Amt, ein einsamer Rekord für baltische Verhältnisse.
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Dienstag, Januar 22, 2013
Einsteigen zum Test!
Ob Bus und Straßenbahn nun den Tallinnern sympathischer werden - wo jeder die Linien bis zur Endstation ausnutzen kann? |
In den Leserforen derselben Zeitungen fallen die Bewertungen etwas krasser aus: die positiven Stimmen loben das Vorbild und beobachten interessiert die Entwicklungen in Tallinn, heben auch die dem Verkehrsexperiment vorangegangene Volksabstimmung in Tallinn hervor.
Negativ äußern sich meist Autofahrer, die derartige "Gängelung" als Einschränkung des Autoverkehrs ablehnen. Manche scheinen auch jeglichen Kostenlos-Dienstleistungen der öffentlichen Hand zu mißtrauen und werten die Tallinner Kostenlos-Busse als "Wärmestube für Penner" ab. Andere meinen in der estnischen Maßnahme auch Bekanntes aus der DDR-Vergangenheit zu entdecken und meinen "am Ende hat der Staat nichts mehr zu verteilen und geht pleite".
174.000 Menschen in Tallinn sollen in den ersten zwei Wochen den neuen Service bereits genutzt haben, dazu kommen auch 49.000 Rentner, die auch bisher bereits freie Fahrt hatten, und die auch nicht ihren Wohnort nachweisen müssen. 570 Fahrzeuge mussten in Tallinn zuvor mit entsprechenden Lesegeräten ausgestattet werden, Anschaffungskosten pro Gerät etwa 500 Euro, Instandhaltungskosten jährlich 760.000 Euro. Die städtischen Verantwortlichen gaben erste Schätzungen zur Entwicklung der ersten zwei Wochen Praxis ab: angeblich soll der private Autoverkehr um 10-15% ab, der öffentliche Verkehr um 6% zugenommen haben.
Dennoch gibt es auch kritische Nachfragen zur Tallinner "Null-Lösung" - auch innerhalb Estlands. Der Erfolg des Modells wird sich wahrscheinlich daran messen lassen müssen, ob zu diesen Fragen Lösungen gefunden werden können.
Das erste kritische Thema ist rein technischer Art. Die meisten Estinnen und Esten besitzen bereits einen elektronischen Personalausweis, eine kleine Chipkarte. Dennoch war es nicht möglich, die in Tallinner Bussen und Bahnen eingebaute Kontrollgeräte auf diese abzustimmen - es müssen neue E-Cards beantragt werden, die Ausstellung der sogenannten "Grünen Karte" (Ühiskaart) verursacht beim Kunden Kosten in Höhe von 3 Euro. Das widerspricht ein wenig der Strategie, den Bürgern möglichst viele Wege zu Ämtern und Nutzungsfunktionen einheitlich mit dem E-Ausweis zu liefern. Andererseits hätten die E-Ausweise Lesegeräte benötigt, während das neue System "kontaktlos" arbeitet, also den Chip auch aus einigen Zentimetern Entfernung bereits erkennt. Allerdings gibt es kein Foto des rechtmäßigen Eigentümers auf dem neuen Kärtchen - so dass für den Fall der Kontrolle weitere Identitätsdokumente mitzuführen nötig sind. "Mit Foto wäre die Produktion zu teuer geworden", so die Stadtväter.
Aber sogar der estnische Datenschutz hat sich schon kritisch gemeldet: es wurden "Datenlücken" entdeckt, offenbar war es Nutzern möglich, auch an Daten anderer Nutzer zu gelangen. Während bei anderen estnischen elektronischen Neuerungen von deren estnischen Erfindern oder Produzenten immer genüßlich erläutert wird, bei Exporten ihrer Produkte nach Deutschland seien spezielle "deutsche Lösungen" möglich - vermeintliche deutsche "Übergenauigkeit" beim Datenschutz. Diesmal sind die Probleme offenbar anders gelagert. Vize-Bürgermeister Taavi Aas hatte auf entsprechende Fragen kürzlich noch eine vielleicht etwas zu einfache Antwort parat: "Niemand wird die Daten manupulieren." (ERR 4.1.13)
Tallinn macht von sich reden - ob für oder gegen fahrscheinfreies Busfahren, Hauptsache die estnische Hauptstadt ist mal wieder Diskussionsgegenstand .... |
Eine andere Kritik setzt eher politisch an: mit kostenlosen Busfahrten wolle sich Bürgermeister Savisaar erstmal bei den anstehenden Kommunalwahlen die Wiederwahl sichern, meint die politische Opposition vor allem von der Reformpartei, die ja im nationalen Parlament den Regierungschef stellt. Und nach denn Wahlen müsse man dann sehen, ob noch Geld für die dringende Auffrischung des Fuhrparks übrig sei.
Der am meisten zum Tallinner Stadtverkehr interviewte Politiker ist gegenwärtig Vizebürgermeister Taavi Aas. Er rechnet so: von den etwa 417.000 Menschen die in Tallinn leben haben 5-10% ihren Wohnsitz hier nicht offiziell registriert. Pro 1.000 Neuregistrierungen würde die Stadt etwa eine Million Euro mehr an Steuern einnehmen können (ERR 25.10.12). Wessen Rechnungen aufgehen und welche nicht, vielleicht wird es schon der Verlauf des ersten Praxisjahres zeigen.
Infos:
Gebrauchsanweisung für die "Grüne Karte" / Ticketkauf online (vom Fahrschein über die Angellizenz bis zum Massagesessel!) /Aktuelle Fahrpreisinfos Tallinn / Infos zur Tallinn Card für Touristen /
laud - Das Winterhochwasser
Stand schon mal höher. Die Bäume dokumentieren das natürlich. Soomaa.
Mittwoch, Januar 16, 2013
POLL bei ARTE
Angesichts der kürzlich stark angestiegenen Leserzahl des alten Blogbeitrags zum Film POLL (siehe "Untergang in Estland") hier auch für die anderen der Hinweis: der Film läuft heute (16.Januar) 20.15 Uhr bei ARTE. (Wiederholung Samstag nacht, 19.1., 2.35 Uhr)
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Montag, Januar 14, 2013
Estlands Politikverdrossenheit
Estland erlebt derzeit eine Welle der Unzufriedenheit mit der Politik. Seit Monaten wird die Regierung öffentlich und in den Medien heftig kritisiert. Dies gipfelte nun in einer Demonstration am 17. November vor dem Parlamentsgebäude in Tallin mit der Losung: „Schluß mit der Lügenpolitik“.
Die Aufregung überrascht ein wenig, ist Estland doch politisch unter den baltischen Staaten ein Hort der Stabilität. Seit 1994 ist keine neue Partei mehr gegründet worden, die sich anschließend etabliert hätte. Seit der Wahl von 2011 gibt es nur noch vier Fraktionen im Parlament Riigikogu. Und Ministerpräsident Andrus Ansip ist nunmehr seit sieben Jahren im Amt. Das ist ein Zeitraum, der sich mit westlichen Demokratien messen kann und im Vergleich mit den baltischen Nachbarn ein einsamer Rekord.
Trotzdem sind die Esten in jüngster Zeit zunehmend unglücklich mit ihrer politischen Elite, der Selbstherrlichkeit und fehlende Kommunikation mit den Bürgern vorgeworfen wird. Entscheidungen würden einsam in Hinterzimmern getroffen wie etwa im Frühjahr im Konflikt um ACTA, dem Handelsabkommen gegen Produktpiraterie. Als Parallele zu Deutschland beschweren sich die Menschen über die Basta-Politik Ansips ebenso wie über die angebliche Alternativlosigkeit. Manche unterstellten dem Regierungschefs auch Amtsmüdigkeit. So wischte die Regierung in letzter Zeit Widerspruch mit dem Hinweis weg, sie sei nun einmal die gewählte Vertretung des Volkes, und man solle sie jetzt einfach arbeiten lassen.
Diese allgemeine Stimmung ist nur der Hintergrund eines handfesten Parteienfinanzierungsskandal der letzten Wochen mit schwarzen Kassen, der ebenfalls Parallelen zu Deutschland aufweist. Der langjährige Abgeordnete Silver Meikar von der Reformpartei des Ministerpräsidenten veröffentlichte am 22. Mai dieses Jahres in der Tageszeitung Postimees eine Selbstbezichtigung. Er habe der Partei nicht von ihm selbst stammendes Geld übergeben, das er wiederum von einem anderen Parteimitglied erhalten habe, nachdem der damalige Generalsekretär und derzeitige Justizminister ihn gefragt hatte, ob er mit dieser Prozedur einverstanden sei. Erst jetzt, drei Jahre später, kamen ihm Zweifel. Die Staatsanwaltschaft ließ den Justizminister verhaften, setzte jedoch ihn und weitere Beschuldigte bald wieder auf freien Fuß mit dem Kommentar der Ermittler, daß die Beschuldigten alle Vorwürfe bestritten und es keine ausreichenden Beweise gäbe.
Zunächst war das Echo gering. In den Umfragen verschob sich die Zustimmung zu konkreten Parteien kaum, und die Opposition versuchte auch nicht, sich den nun als Silver-Gate bezeichneten Skandal im großen Stile zu Nutzen zu machen. Dies führt der Politikwissenschaftler Tõnis Saarts zurück auf das Kartell der politischen Kräfte. Die Parteienfinanzierung ist seit jeher ein schwieriges Thema und trotz langer Debatten darüber herrsche immer noch keine Klarheit darüber, wie sich die Parteien tatsächlich finanzierten und nicht einmal darüber, wie sie sich finanzieren sollten. Und richtig, in der Vergangenheit wurde allem voran der Zentrumspartei des Tallinner Bürgermeisters Edgar Savisaar vorgeworfen, sich von Moskau finanzieren zu lassen; selbst die oppositionellen Sozialdemokraten standen in diesem Ruf. Mit einem Fragezeichen versehen ist außerdem der Verkauf des Büros des konservativen Koalitionspartners von Ansip im Zentrum der Hauptstadt für ein Mehrfaches des eigentlichen Wertes.
Im Oktober wurde dann auch auf Bestreben des Ministerpräsidenten Silver Meikar aus der Partei ausgeschlossen. Das brachte das Faß zum Überlaufen. Am 12. November demonstrierte die Bevölkerung in Tartu, der Heimatstadt von Ansip, vor dem Büro der Reformpartei. Anschließend verfaßten 17 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Intellektuelle die Charta „Harta 12“, unter ihnen so bekannte Personen wie der etwas schillernde Politiker und Publizist Ignar Fjuk, der Sozialoge Juhan Kivirähk, die Politologin und ehemalige Politikerin Marju Lauristin, der Journalist Ahto Lobjakas, der Kolumnist Rein Raud, der Fernsehjournalist Indrek Tarand, der 2009 ein individuelles Mandat im Europaparlament gewonnen hatte wie auch der betroffene Silver Meikar selbst. Die Charta wurde inzwischen von vielen tausend Bürgern im Internet unterzeichnet..
Marju Lauristin und Juhan Kivirähk äußerten sich zu den wichtigsten Punkten der Charta im estnischen Radio. Sie werfen den Parteien eine Monopolisierung der Macht vor, sie kümmerten sich weniger um das Gemeinwohl als um das Wohl bestimmter einflußreicher Kreise. Gerade die Konzentration auf vier Parteien schließe so einen Teil der Bevölkerung von er Partizipation aus. Die Demokratie, so heißt es gleich im ersten Absatz, breche vor den Augen aller zusammen, weil die Macht die demokratischen Spielregeln nicht einhalte. Sie sei käuflich und im Interesse ihres Erhaltes werde gelogen. Aufgabe der Politik sei es, Verantwortung zu übernehmen. Die Bevölkerung erkenne ihre Vorstellung von Ethik in der gegenwärtigen Situation nicht wieder. Die Forderung nach mehr Transparenz bei der Finanzierung ist ebenso nachvollziehbar wie mehr Kommunikation über die Arbeit der Regierung und die Öffnung der Parteien gegenüber der Zivilgesellschaft. Für Sozialwissenschaftler und erfahrene Politiker überraschend die Forderung von Marju Lauristin nach vereinfachten Möglichkeiten für Parteineugründungen und deren Weg ins Parlament anstelle der Aufforderung an die Zivilgesellschaft, sich in den bestehenden Parteien mehr einzubringen.
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