Was steckt technisch dahinter? Estlands Wahlrecht ist eine Verhältniswahl mit Personenstimmen. Für den an andere Verhältniswahlsysteme gewöhnte Beobachter sieht der Stimmzettel sehr ungewöhnlich aus. Es ist ein faktisch leeres Blatt mit einem freien Feld. Daneben steht: „ich wähle den Kandidaten Nummer“. Der Wähler muß also mit einem Kugelschreiber die Nummer des bevorzugten Kandidaten in dieses Feld eintragen. Der Effekt ähnelt dem der österreichischen Vorzugsstimme. Der Wähler bevorzugt einen Kandidaten und wählt mit ihm auch die Liste seiner Partei. Es ist ein kompliziertes mathematisches Verfahren, wie hoch die Quote ist, um ein „persönliches“ Mandat auf diese Weise zu erreichen. Da sich aber viele Wähler stärker nach Personen als nach Parteien richten und selbst Parteianhänger vorwiegend für die bekannteren Politiker stimmen, erreichen diese in aller Regel die Quote ohne Schwierigkeiten und ziehen wie eine Lokomotive auf Kompensationsmandaten Parteifreunde mit in das Parlament, für die entschieden weniger Wähler ihre Personenstimme abgegeben haben. Der estnisch-amerikanische Politologe Rein Taagepera hat dieses System deshalb wiederholt als Enttäuschungsmaschine der Wähler kritisiert.
Nichtsdestotrotz bietet dieses System parteilosen und unabhängigen Kandidaten die Möglichkeit zur Kandidatur. Dabei zu gewinnen ist in den zwölf etwas größeren Wahlkreisen einfacher, als vergleichsweise in Deutschland als Unabhängiger ein Direktmandat zu erringen, aber deshalb noch lange nicht einfach. Statistiker haben berechnet, daß in einigen Wahlkreisen ein Einzelkandidat, um gewählt zu werden, 20% der Stimmen erhalten muß – ein schier unerreichbares Ziel, wohingegen in Raplamaa es nur 7% bedürfe, doch hier kandidierten mit Ministerpräsident Andrus Ansip und seinem zweimaligen Vorgänger Mart Laar sehr bekannte estnische Politiker.
Mit einem Wort, ein Erfolg ist nicht ausgeschlossen. Bevor sich das estnische Parteiensystem nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 stabilisiert hatte, gelang das 1992 zwei Politikern und anschließend bei Parlamentswahlen nicht wieder. Indrek Tarand ist damit die dritte Ausnahme, die dieses Jahr zahlreiche Personen zur Kandidatur ermunterte. Neben vielen Nationalisten und sonstigen auch zwielichtigen Gestalten etwa die bekannte Sängerin Siiri Sisask.
Die Unwägbarkeiten beschreiben die Politologen Rein Toomla und Ott Lumi; sehr viele Wähler entschieden sich erst in der Woche vor dem Urnengang, die Parteien dürften also ihre Bemühungen nicht ruhen lassen, zumal dieses Jahr die Umfragewerte Achterbahn fahren. Die Zentrumspartei hat deshalb die Wahlkommission aufgefordert, dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen und die Veröffentlichung von Umfragen so kurz vor den Wahlen einzuschränken (, was kein Thema für jene ist, die auf Umfragewerte pfeifen). Die Nervosität der Partei Savisaars erklärt der Journalist Kalle Muuli damit, daß gerade für sie ein schlechteres Ergebnis als 29 Sitze dramatisch wäre nach vier Jahren in der Opposition, während die Popularität der Regierung in der Wirtschaftskrise gelitten habe.
Ein weiterer für den deutschen Beobachter überraschender Aspekt ist, daß ab sofort alle 625 Wahllokale täglich von zwölf bis acht Uhr abends geöffnet sind, um den Menschen, die sich am Wahltag nicht am Wohnort befinden, die Stimmabgabe zu ermöglichen. Dieser Punkt streift ein viel diskutiertes Thema diverser Wahlrechte, wie man den Bürgern das Wählen zwecks Steigerung der Wahlbeteiligung bequemer machen kann. Während es in Deutschland nur die auch in Estland bekannte Briefwahl gibt mit dem Nachteil, daß daheim niemand so recht prüfen kann, wer wie wählt, kann man im benachbarten Lettland am Wahltag und nur am Wahltag in einem beliebigen Wahllokal abstimmen. Während das dort auch bedeutet, im entsprechenden von fünf Wahlkreisen des Landes abzustimmen, kann der estnische Wähler auch andernorts eine Stimme für seinen Wahlkreis abgeben.
Mit dem geflügelten Wort E-stonia, ein Wortspiel mit dem für den elektronischen Cyberspace stehenden E und dem Namen des Landes auf Englisch, wird beschrieben, was in Estland noch geht: man kann auch elektronisch im Internet wählen. Identifikationskarten wurden schon vor längerer Zeit eingeführt, es bedarf am Rechner nur des entsprechenden Lesererätes. Darüber hinaus kann man in diesem Jahr sogar erstmals per Handy wählen (Die Doppeldeutigkeit des Verbs wählen läßt sich übrigens auch im estnischen – „valima“ – nicht vermeiden). Dennoch, die meisten Wähler gehen traditionell am Wahltag ins Wahllokal.
P.S.:
Am Montag wandten sich zahlreiche Einzelkandidaten an die Wahlkommission mit einem Protestschreiben gegen die Übertragung von Stimmen unerfolgreicher Kandidaten an die starren Listen der Parteien auf nationaler Ebene. Hinter dem Anliegen steckt aber offensichtlich mehr der Wunsch nach Sichtbarkeit in den Medien. Die Einzelkandidaten befürchten - zu Recht - daß viele Wähler, die keine Partei wählen wollten, wegen der in allen Zeitungen als gering bezeichneten Aussicht der Parteilosen Mandate zu erringen, erst gar nicht zu Wahl gingen. Viele Wähler hätten Angst, so die Einzelkandidaten, daß ihre Stimmen im Falle der Erfolglosigkeit ihres Kandidaten an eine andere Partei übertragen wird. Das ist, wie die Wahlkommission betonte, freilich nicht so. Das gilt nur für Kandidaten mit Parteizugehörigkeit. Mit einem Wort, selbstverständlich werden die Stimmen erfolgloser Einzelkandidaten an niemanden übertragen und sind damit verfallen. Da das Parlament Riigikogu 101 Mandate hat, die in jedem Fall vergeben werden, erhalten die verfallenen Wähleranteile so indirekt andere Parteien Das gilt aber auch für alle Stimmen für Parteien, die unter der 5%-Hürde blieben. Ein Sturm im Wasserglas also, ein hilfloser Akt der Einzelkandidaten gegen Wahlenthaltung. Letztendlich ist es für den Wähler egal, ob er nicht zur Wahl geht oder einen erfolglosen Einzelkandidaten wählt. Das Ergebnis ist das gleiche.