Montag, Februar 28, 2011

Parlamentswahlen in Estland von der technischen Seite (ergänzt)

Estland wählt am kommenden Sonntag ein neues Parlament. Der 2009 als Einzelkandidat angetretene estnische Angeordnete des EU-Parlaments, der Moderator Indrek Tarand, spricht von „aufständischen“ Wahlen. Die Wähler glaubten den Versprechungen der Parteien und Politiker nicht mehr, daher gebe es in diesem Jahr so viele Einzelkandidaten. Er forderte die Wähler auf, Ihre Einflußmöglichkeiten nicht zu unterschätzen.

Was steckt technisch dahinter? Estlands Wahlrecht ist eine Verhältniswahl mit Personenstimmen. Für den an andere Verhältniswahlsysteme gewöhnte Beobachter sieht der Stimmzettel sehr ungewöhnlich aus. Es ist ein faktisch leeres Blatt mit einem freien Feld. Daneben steht: „ich wähle den Kandidaten Nummer“. Der Wähler muß also mit einem Kugelschreiber die Nummer des bevorzugten Kandidaten in dieses Feld eintragen. Der Effekt ähnelt dem der österreichischen Vorzugsstimme. Der Wähler bevorzugt einen Kandidaten und wählt mit ihm auch die Liste seiner Partei. Es ist ein kompliziertes mathematisches Verfahren, wie hoch die Quote ist, um ein „persönliches“ Mandat auf diese Weise zu erreichen. Da sich aber viele Wähler stärker nach Personen als nach Parteien richten und selbst Parteianhänger vorwiegend für die bekannteren Politiker stimmen, erreichen diese in aller Regel die Quote ohne Schwierigkeiten und ziehen wie eine Lokomotive auf Kompensationsmandaten Parteifreunde mit in das Parlament, für die entschieden weniger Wähler ihre Personenstimme abgegeben haben. Der estnisch-amerikanische Politologe Rein Taagepera hat dieses System deshalb wiederholt als Enttäuschungsmaschine der Wähler kritisiert.

Nichtsdestotrotz bietet dieses System parteilosen und unabhängigen Kandidaten die Möglichkeit zur Kandidatur. Dabei zu gewinnen ist in den zwölf etwas größeren Wahlkreisen einfacher, als vergleichsweise in Deutschland als Unabhängiger ein Direktmandat zu erringen, aber deshalb noch lange nicht einfach. Statistiker haben berechnet, daß in einigen Wahlkreisen ein Einzelkandidat, um gewählt zu werden, 20% der Stimmen erhalten muß – ein schier unerreichbares Ziel, wohingegen in Raplamaa es nur 7% bedürfe, doch hier kandidierten mit Ministerpräsident Andrus Ansip und seinem zweimaligen Vorgänger Mart Laar sehr bekannte estnische Politiker.

Mit einem Wort, ein Erfolg ist nicht ausgeschlossen. Bevor sich das estnische Parteiensystem nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 stabilisiert hatte, gelang das 1992 zwei Politikern und anschließend bei Parlamentswahlen nicht wieder. Indrek Tarand ist damit die dritte Ausnahme, die dieses Jahr zahlreiche Personen zur Kandidatur ermunterte. Neben vielen Nationalisten und sonstigen auch zwielichtigen Gestalten etwa die bekannte Sängerin Siiri Sisask.

Die Unwägbarkeiten beschreiben die Politologen Rein Toomla und Ott Lumi; sehr viele Wähler entschieden sich erst in der Woche vor dem Urnengang, die Parteien dürften also ihre Bemühungen nicht ruhen lassen, zumal dieses Jahr die Umfragewerte Achterbahn fahren. Die Zentrumspartei hat deshalb die Wahlkommission aufgefordert, dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen und die Veröffentlichung von Umfragen so kurz vor den Wahlen einzuschränken (, was kein Thema für jene ist, die auf Umfragewerte pfeifen). Die Nervosität der Partei Savisaars erklärt der Journalist Kalle Muuli damit, daß gerade für sie ein schlechteres Ergebnis als 29 Sitze dramatisch wäre nach vier Jahren in der Opposition, während die Popularität der Regierung in der Wirtschaftskrise gelitten habe.

Ein weiterer für den deutschen Beobachter überraschender Aspekt ist, daß ab sofort alle 625 Wahllokale täglich von zwölf bis acht Uhr abends geöffnet sind, um den Menschen, die sich am Wahltag nicht am Wohnort befinden, die Stimmabgabe zu ermöglichen. Dieser Punkt streift ein viel diskutiertes Thema diverser Wahlrechte, wie man den Bürgern das Wählen zwecks Steigerung der Wahlbeteiligung bequemer machen kann. Während es in Deutschland nur die auch in Estland bekannte Briefwahl gibt mit dem Nachteil, daß daheim niemand so recht prüfen kann, wer wie wählt, kann man im benachbarten Lettland am Wahltag und nur am Wahltag in einem beliebigen Wahllokal abstimmen. Während das dort auch bedeutet, im entsprechenden von fünf Wahlkreisen des Landes abzustimmen, kann der estnische Wähler auch andernorts eine Stimme für seinen Wahlkreis abgeben.

Mit dem geflügelten Wort E-stonia, ein Wortspiel mit dem für den elektronischen Cyberspace stehenden E und dem Namen des Landes auf Englisch, wird beschrieben, was in Estland noch geht: man kann auch elektronisch im Internet wählen. Identifikationskarten wurden schon vor längerer Zeit eingeführt, es bedarf am Rechner nur des entsprechenden Lesererätes. Darüber hinaus kann man in diesem Jahr sogar erstmals per Handy wählen (Die Doppeldeutigkeit des Verbs wählen läßt sich übrigens auch im estnischen – „valima“ – nicht vermeiden). Dennoch, die meisten Wähler gehen traditionell am Wahltag ins Wahllokal.

P.S.:
Am Montag wandten sich zahlreiche Einzelkandidaten an die Wahlkommission mit einem Protestschreiben gegen die Übertragung von Stimmen unerfolgreicher Kandidaten an die starren Listen der Parteien auf nationaler Ebene. Hinter dem Anliegen steckt aber offensichtlich mehr der Wunsch nach Sichtbarkeit in den Medien. Die Einzelkandidaten befürchten - zu Recht - daß viele Wähler, die keine Partei wählen wollten, wegen der in allen Zeitungen als gering bezeichneten Aussicht der Parteilosen Mandate zu erringen, erst gar nicht zu Wahl gingen. Viele Wähler hätten Angst, so die Einzelkandidaten, daß ihre Stimmen im Falle der Erfolglosigkeit ihres Kandidaten an eine andere Partei übertragen wird. Das ist, wie die Wahlkommission betonte, freilich nicht so. Das gilt nur für Kandidaten mit Parteizugehörigkeit. Mit einem Wort, selbstverständlich werden die Stimmen erfolgloser Einzelkandidaten an niemanden übertragen und sind damit verfallen. Da das Parlament Riigikogu 101 Mandate hat, die in jedem Fall vergeben werden, erhalten die verfallenen Wähleranteile so indirekt andere Parteien Das gilt aber auch für alle Stimmen für Parteien, die unter der 5%-Hürde blieben. Ein Sturm im Wasserglas also, ein hilfloser Akt der Einzelkandidaten gegen Wahlenthaltung. Letztendlich ist es für den Wähler egal, ob er nicht zur Wahl geht oder einen erfolglosen Einzelkandidaten wählt. Das Ergebnis ist das gleiche.

Dienstag, Februar 22, 2011

Arvo Pärt in Laulasmaa

Ab 2015 wird in Laulasmaa, einem auch als Erholungsort bekannten Ort westlich von Tallinn, ein großes Informationszentrum zu Leben und Werk des estnischen Komponisten Arvo Pärt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Kern dieses Hauses wird das Archiv zum Werk von Arvo Pärt sein, außerdem planen die Organisatoren auch Konferenzen und Konzerte zu veranstalten. 

Bereits seit 2009 betreiben Pärt und Mitglieder der Familie in Laulasmaa ein Arvo-Pärt-Zentrum. Ein digitales Archiv befindet sich im Aufbau, etwa 10.000 Fotos, etwa 150 Videos und eine Datenbank zu Leben und Werk gehören dazu. 255.000 Euro gibt 2011 der estnische Staat dazu, auch einige Sponsoren konnten gewonnen werden.
Der 1935 geborene Arvo Pärt, der 1980 aus Sowjet-Estland emigrierte und inzwischen als einer der bekanntesten und größten Komponisten zeitgenössischer Musik gilt, lebt momentan in Berlin, seine Werke werden auch in Deutschland relativ häufig aufgeführt.


Sonntag, Februar 20, 2011

Estland vor Entscheidung politischer Kontinuität

Der estnische Politologe Rein Toomla behauptete bereits in seinem 1999 erschienen Buch über die Parteien in Estland, das Land habe ein Parteiensystem. In der Politikwissenschaft beschreibt dieser Begriff die Gesamtheit der Parteien eines Staates inklusive Diskussionen über relevante Parteien, also jene, die es wenigstens ins Parlament schaffen. Wenn also Toomla 1999 sagte, Estland habe ein Parteiensystem, dann meinte er damit dessen Prognostizierbarkeit. Er argumentierte, daß es schon vorher offensichtlich sei, welche Parteien den Sprung in die nächste Wahlperiode schaffen.

Toomlas Behauptung erwies sich bislang als richtig. Während in den südlichen Nachbarländern Parteienspaltungen und -vereinigungen sowie Neugründungen nichts Ungewöhnliches sind, so wurde die „jüngste“ Partei Estlands bereits 1994 vom früheren Nationalbankpräsidenten und heutigen EU-Kommissar Siim Kallas gegründet.

Anfang März finden turnusgemäß Parlamentswahlen statt, und es bleibt dabei: Welche Parteien vertreten sein werden, ist so gut wie sicher. Das ist zunächst die regierende Reformpartei, die Gründung von Kallas, die Zentrumspartei des Volksfront-Regierungschefs Edgar Savisaar, der auf nationaler Ebene trotz regelmäßig großer Wahlefolge von den anderen Parteien als Partner meist abgelehnt wird und deshalb seit Jahren das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt der Oppositionsbank vorzieht sowie die Union aus Vaterland und Res Publica. Letztere war vor ungefähr zehn Jahren als Saubermannpartei gegründet später in der Vereinigung aufgegangen. Außerdem werden die nach vielen internen Streitigkeiten angeschlagenen Sozialdemokraten wohl Mandate erzielen. Ob die Volksunion, die vorwiegend die Landbevölkerung anspricht, und die Grünen die 5%-Hürde überspringen werden, gilt als unsicher, aber nicht unwahrscheinlich.

Die derzeitig regierende Minderheitsregierung aus Reformpartei und Vaterland unter Ministerpräsident Andrus Ansip hat sich gegenüber zahlreichen Wahlversprechen der Sozialdemokraten bereits ablehnend geäußert. Dieser Schritt ist insofern von Interesse, als diese bis vor rund einem Jahr der Koalition angehörten und wegen eines Streites über die Arbeitsmarktpolitik Ansips die Regierung verlassen hatten. In den vergangenen 20 Jahren haben aber die Sozialdemokraten immer wieder mit den nationalen und liberalen Kräften koaliert und nicht mit der sich regelmäßig sozialdemokratisch gerierenden Zentrumspartei zusammengearbeitet.

Damit wird eine Fortsetzung der bisherigen Regierungsarbeit in der bisherigen Koalition sehr wahrscheinlich. Ansip wird im Land von vielen Menschen geachtet, weil Estland durch die Finanzkrise trotz aller Schwierigkeiten immer noch besser gesteuert wurde als sein südlichen Nachbar Lettland. Seiner Reformpartei werden 40% zugetraut. Aber Umfrageinstitute geben zu bedenken, daß unter den gegebenen Umständen unentschlossene Wähler einen bedeutenden Einfluß haben könnten. Wichtig ist auch die Frage, wie viele Wähler ihre Stimme den Einzelkandidaten geben. Nach estnischen Wahlrecht ist es möglich, als Einzelperson um ein Mandat zu kandidieren.

Rein Toomla meint deshalb, daß angesichts auf dieser Weise „verfallender“ Stimmen die Reformpartei sogar mit unter 50% der Stimmen eine absolute Mehrheit der Sitze erzielen könnte, was eine echte Sensation für die estnische Politik bedeutete. Ein solches Szenario würde freilich um so wahrscheinlicher, je eher die Grünen und die Volksunion tatsächlich an der 5%-Hürde scheitern würden.

Sicher scheint nur eins. Politisch wird sich in Estland kaum etwas verändern.

Freitag, Februar 18, 2011

Kulturhauptstadt Tallinn - Jahresüberblick

Hier ist die Gesamtübersicht zum Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Tallinn einsehbar:

-32°C


-32°C
Ursprünglich hochgeladen von rene j
Der Winter bewegt sich Rekord-Temperaturtiefstwerten entgegen. Am Morgen in Estland. von rene j





Update 28. Februar. Die Eis-Situation auf der Ostsee, jetzt auch farbig beim Itameripoortali

Bei 25cm Stärke wurde zum Beispiel die Strecke zur Insel Hiiumaa freigegeben.

Mittwoch, Februar 16, 2011

Zählappell

2332 Laptops sollen in Estland dafür zum Einsatz kommen, im Dezember diesen Jahres eine landesweite Zählung von Gebäuden und Einwohnern durchzuführen.Entsprechende Planungen gab jetzt Rain Haviko, Chef der Statistikbehörde "Statistics Estonia" bekannt. Im Unterschied zu früheren Zählungen soll die papiergebundene Erfassung nun so weitgehend wie möglich aufgegeben werden. 
Bei der zurückliegenden Befragung aus dem Jahr 2000 waren noch Interviewer von Haus zu Haus gegangen, die in Fragebogen eingetragenenen Antworten hatten dann eingescannt werden müssen. Diesmal sollen also die Antworten direkt mittels der Laptops eingegeben und über sichere Datenkanäle direkt zu den Statistikzentralen (Servern) übertragen werden. Die Anforderungen an die Laptops seien, dass sie nicht mehr als 2.4kg wiegen, ihre Batterie für acht Stunden ausreichen, ihre Bildschirme zwischen 13 und 13,6 inches liegen sollten, und die Händler mindestens ein Jahr Garantie geben könnten, erläuterte Haviko. 
Insgesamt 1,2 Millionen Euro wird nun zur Anschaffung der Geräte durch die estnische Beschaffungsbehörde ausgegeben werden. Die Erfassung soll im ersten Vierteljahr 2012 abgeschlossen werden, die Geräte sollen danach zur Nutzung an andere staatliche Behörden weitergegeben werden.

Dienstag, Februar 15, 2011

Estland kitzelt den russischen Bären

Während auf der Berlinale ein Film des deutschen Regisseurs Cyril Tauschi über den früheren russischen Oligarchen Michail Chodorkowsky (Михаил Ходорковский) gezeigt wird, wird in Estland eine Briefmarke mit seinem Konterfei und dem seines ebenfalls verurteilten Geschäftspartner Platon Lebedew (Платон Лебедев ) herausgegeben.

Initiator ist offensichtlich Severin Tarasov, der in Estland eine Firma leitet, die mit Metallen handelt und gleichzeitig bei Baltiski Memorial aktiv ist. Diese NRO hilft Menschen in der ehemaligen Sowjetunion bei Nachforschungen über die eigene Familie und unterstützt das Erlernen von Fremdsprachen bis hin zu einer Übersiedlung nach Estland. Tarasov begründet das Erscheinen der Marke mit dem Engagement der beiden ehemaligen Geschäftsleute. Das Motiv war im Rahmen des Programmes „Minu Mark“ (meine Briefmarke) eingereicht worden, daß jedem gegen eine Gebühr erlaubt, gültige Briefmarken mit dem eigenen Motiv zu bestellen. Der Preis hängt von der Menge und vom Nennwert ab.

Der Entwurf der Marke stammte von dem aus Weißrußland stammenden Künstler Perepetschin und die Marke hat den Nennwert von 0,58 Euro oder neun estnischen Kronen. Soviel kostet ein Brief ins europäische Ausland.

Während die meisten Bestellungen aus Rußland kommen, hat der Autor dieser Zeilen bislang keine Kommentare der estnischen Presse entdeckt.

Samstag, Februar 12, 2011

Toter Vogel an der zugefrorenen See


Dead bird on a frozen sea
Ursprünglich hochgeladen von remanufactory
Der Titel des Fotos von remanufactory. Er gewährt uns einen Blick auf den Eiszustand an der Küste. Das wird wohl ein langer Winter. Und jemand hatte Hunger gehabt, siehe unten links.

Donnerstag, Februar 10, 2011

Loddar blamiert sich

Mäng on läbi - wie der Este sagt. Die deutsche Presse ist sich einig: die Fußball-Nationalmannschaft Bulgariens spielte in Tallinn gegen Estland nur 2:2 unentschieden, und das ist eine Blamage. Nein, natürlich nicht für für die tapferen Esten - die im Fußball wohl immer noch niemand auf der Rechnung hat - sondern für den Trainer der Bulgaren, den ehemaligen deutschen Nationalspieler Lothar (wegen seiner fränkischen Herkunft auch "Loddar" gerufen) Matthäus. 
Konstantin Wassiljew (20./80.) traf für die Esten, Iwelin Popow bewahrte die Bulgaren mit zwei Elfmetertoren (41./83.) vor einer Niederlage. Nein, fürs Elfmeter-Training allein braucht man wohl keinen deutschen Weltmeister-Trainer.

 "Penaltymöll" titelt die estnische Presse - Aufregung um die Elfmeter. Matthäus, der ja vor kurzem zum vierten Mal geschieden wurde, hat - soweit bekannt wurde - die schönen Estinnen verschont und ist wieder abgereist. Ob er wohl Martin Reim kennen gelernt hat? Matthäus war jahrelang mit 150 Nationalmannschaftsspielen europäischer Rekordhalter - bis er von Martin Reim abgelöst wurde. Reim ist nun bei Flora Tallinn - dem aktuellen estnischen Meister - als Trainer engagiert und wurde erst kürzlich von Präsident Ilves für seine Verdienste geehrt (siehe Info estnischer Fußballverband).
Spielbericht Delfi.ee

Einen schönen Beitrag über estnischen Fußball schrieb übrigens Christopf Schurian kürzlich bei den "Ruhrbaronen".  Zitat: "Außer Tallinn gibt es sechs estnische Städte, die sich als Standort für ein Fußballstadion eigneten. Estland hat einen fossilen, sehr schmutzigen und sehr ineffektiven Rohstoff und herausragend extreme klimatische Verhältnisse. Außerdem ist Estland immerhin die Nummer 74 in der FIFA-Coca-Cola-Fußball-Weltrangliste – liegt damit fast 40 Plätze vor Katar. Doch keine Angst: Estland wird keine Fußballweltmeisterschaft ausrichten, versucht es erst gar nicht. ... Vor allem würde man in Estland keine zehn Stadien errichten, um acht nach dem Turnier gleich wieder abzureissen."

NACHTRAG (14.2.)
Da habe ich doch wieder zu früh zu diesem Thema gepostet. Einerseits hat die aufmerksame Boulevardpresse nun doch Loddars angebliche Avancen  entdeckt (Adriane, siehe OÖ-Nachrichten), andererseits kocht die Gerüchteküche über mit Spekulationen über Manipulationen zu den Spielergebnissen Estland-Bulgarien und auch Lettland-Bolivien. Beide Spiele hatten innerhalb einer Woche dieselben Schieds- und Linienrichter aus Ungarn, beide Spiele fanden im türkischen Antalya statt, und die in beiden Spielen zusammen erzielten 7 Tore fielen alle per Elfmeter. (siehe Süddeutsche, ZEIT).

Freitag, Februar 04, 2011

Grenzgänger

Seit jeher lag die Stadt Walk auf der Grenze des estnisch bzw. Lettisch besiedelten Territoriums. Einzig gehörte die Stadt zum gemischtethnischen Livland, eine Grenze zu ziehen wurde erst nach der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands 1918 erforderlich. Damals verblieb der größere Teil der Stadt den Esten. Während des kalten Krieges in der Sowjetunion durchzog den Ort dann wieder keine Grenze mehr, die Ironie der Geschichte nach dem Ende des kalten Krieges 1991 wieder gezogen wurde.

Innerstädtisch gab so es zeitweilig zwei Grenzstationen und einige gesperrte Straßen. Das bedeutete natürlich nicht, daß keine Esten mehr nach Lettland und Letten nach Estland fahren konnten. Probleme gab es trotzdem zahlreiche. Zunächst nämlich wurde zum Grenzübertritt noch gestempelt, Personalausweise gab es damals überhaupt nicht. Auf diese Weise waren die Pässe aber zügig voll und die Betroffenen waren gezwungen, vor Ablauf der Gültigkeit neue Dokumente zu beantragen. Manche Menschen wohnten im einen Teil der Stadt, arbeiteten aber im anderen. Für verwitwete Personen wurde sogar der Friedhofsbesuch damit plötzlich eine Geldfrage.

Besonders betroffen waren die Einwohner russischer Nationalität, Migranten aus der Sowjetzeit, die wegen der Gesetzgebung in Lettland und Estland mit dem Status der Staatenlosen besonders große Schwierigkeiten beim Grenzübertritt hatten, weil sie für das jeweils andere Land auch noch ein Visum benötigten.

Am schlimmsten traf es jedoch eine Reihe von estnischen Staatsbürgern, Bewohner einer kleinen Straße, die auf estnischer Seite põhja, Nordstraße, und auf der lettischen Seite savienības, Unionsstraße heißt. Die Esten hatten sich hier in der Sowjetzeit Eigenheime errichtet, von denen ein Teil sich nach der Grenzziehung von 1920 aber auf lettischer Seite befand. Der Vorschlag eines Staatsgebietsaustausches wurde von lettischer Seite abgelehnt.

Diese Probleme haben sich mit dem Beitritt zum Schengener Abkommen erledigt und das gilt auch für jene russischen Einwohner, die nach wie vor im Staatenlosen-Status leben. Andererseits haben sich Estland und Lettland in den vergangenen zwanzig Jahren sehr unterschiedlich entwickelt. Die Esten zahlen ab 2011 mit dem Euro, während die Letten noch immer unter den Folgen der Krise leiten.

Das trieb nun rund 15 im estnischen Valga arbeitende lettische Staatsbürger dazu, einem Aufruf des Bürgermeisters zu folgen, und sich auf der estnischen Seite offiziell anzumelden. Zurück geht die Situation auf Jobs in stabilen Unternehmen wie der Möbelfabrik, dem Fleischkombinat und dem Depo der estnischen Bahn. Hinzu kommen Vorteile finanzieller Natur wie ein höheres Kindergeld, niedrigere Steuern, eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung – die Aufnahme von Letten ins Krankenhaus der estnischen Stadthälfte ist ansonsten nur mit EU-Versicherungsschein möglich, höhere Pensionsansprüche, deren zweite Säule im estnischen System vererbbar ist wie auch ein wenn auch geringfügig höherer Mindestlohn. Die Betroffenen tauschen ihren Verdienst in aller Regel nicht in die lettische Währung um, da Estland auch billiger sei.

Die Politik im lettischen Valka ist empört. Jeden Monat treffe man sich zur gemeinsamen Planung, offiziell heiße es, eine Stadt zwei Staaten, und dann müsse man von diesem Schritt aus der Presse erfahren. Pikant an der Einladung des estnischen Kollegen ist freilich, daß eine Anmeldung nur möglich ist für jene, die im estnischen Valga Freunde oder Verwandte haben, denn die Stadt hat einerseits keine Wohnflächen und wäre auch gesetzlich daran gehindert, diese Letten anzubieten. Insofern bedeutet die Ummeldung der 15 Personen nicht notgedrungen, daß diese auch physisch auf der estnischen Seite leben. Der Bürgermeister des estnischen Valga rechtfertigt sich jedoch mit dem Hinweis, daß ein Teil der Abgaben der in Valga Arbeitenden unabhängig davon, ob diese aus Lettland stammen oder in Estland in einer anderen Gemeinde leben, in die Hauptstadt überwiesen werden und nicht vor Ort verbleiben. Dies sei seine Motivation gewesen. Er versprach gleichzeitig, die entsprechenden Einnahmen in jedem Fall in die Verbesserung der Infrastruktur zu investieren.

Einen regen Verkehr und grenzüberschreitendes Wohnen gibt es auch in Hesinki und Tallinn, zwei Hauptstädte, die immerhin das Meer auf einer Entfernung von 80km trennt. Dennoch spricht man schon lange von Talsinki. Das Außenministerium in Riga hat bereits erklärt, daß es lettischen Staatsbürgern freistehe, ihren Wohnsitz in einem anderen Land zu nehmen.

Dienstag, Februar 01, 2011

Estland, der Euro und der Eurostreit

Kaum haben die Esten zum Jahreswechsel den Euro eingeführt, tauchten in der Hauptstadt Tallinn die ersten „falschen Fuffziger" auf, im konkreten Falle allerdings mache auch nur mit dem Nennwert von 20 Euro. Ministerpräsident Andrus Ansip, für den der Beitritt zur Eurozone lange Zeit ganz oberste Priorität gehabt hatte, erklärte dies mit Hoffnung der Betrüger auf mehr Erfolg in einer Gesellschaft, die sich noch nicht an die Gemeinschaftswährung gewöhnt hat. Ein neues Alltagsproblem für die Einwohner Estlands, denn Euro-Scheine zu fälschen ist natürlich lukrativer als die Banknoten einer so kleinen Währung wie der estnischen Krone.

Aber damit nicht genug löste die Einführung auch noch ein politisches Problem aus. Die Esten hatten sich bereits vor einigen Jahren per Umfrage dafür ausgesprochen, daß die Rückseite aller estnischen Münzen eine Karte der Republik Estland zieren solle. Aus Rußland kam der Vorwurf, die geprägten Umrisse entsprächen nicht den heutigen Grenzen Estland.

Der historische Hintergrund ist zu suchen in den Erfolgen der jungen estnischen Armee unter Johan Laidoner während des Befreiungskrieges nach dem ersten Weltkrieg gegen die ebenso junge Rote Armee. Die Esten brachte dies in eine günstige Position bei den Verhandlungen über die erstmals in der Geschichte erforderliche Grenzziehung. Nach der Inkorporation in die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges korrigierten die Sowjets den Verlauf und schlugen einige estnische Gebiete nördlich und südlich des Peipussees der Russischen Republik zu, obwohl auch dort finno-ugrische Bevölkerungsgruppen lebten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete diese Grenze einen fortlaufenden Verstoß gegen den Friedensvertrag von Tartu von 1920, in dem das damalige Sowjetrußland für alle Zeiten auf Gebietsansprüche verzichtet hatte. Nichtsdestotrotz war die estnische Politik mit Ausnahme von Nationalisten pragmatisch genug, diese Gebiete nicht zurückzuverlangen. Der paraphierte Grenzvertrag ist jedoch aus Gründen diplomatischer Differenzen nach wie vor nicht in Kraft.

Die Reaktion der estnischen Seite auf den Vorwurf, es handele sich um ein „künstlerisches" Verständnis der Grenzen des Landes, war gewiß unglücklich, zumal es über den Entwurf des Künstlers tatsächlich Diskussionen gegeben hatte. Der estnische Botschafter in Rußland leugnete schließlich jedoch, die Umrisse enthielten russisches Territorium, und ein konzentrierter Blick auf die Münzen scheint den Vorwurf eher weniger zu bestätigen, und so beruhigten sich in dieser Frage die Gemüter schnell.

Die Erweiterung der Eurozone ist für viele Kritiker allerdings auch Anlaß, ihre bisherigen Thesen erneut vorzutragen und anhand des estnisches Beispiels zu belegen. Dabei werden regelmäßig „Mantras" wiederholt, die nicht nur „technisch" mit den Vor- und Nachteilen der Gemeinschaftswährung in Verbindung stehen, sondern oftmals auf Weltanschauung beruhen. Bei einigen Experten überrascht die Selbstsicherheit, mit denen diese hinlänglich bekannten Positionen von Apologeten der angebots- und nachfrageorientierten Ansätze vorgebracht werden, als hätten sich die Wirtschaftswissenschaften nicht auch schon früher geirrt. Weder die Stagflation in den 70er Jahren noch der „Zusammenbruch des Neoliberalismus" wurden in der breite prognostiziert. Ganz im Gegenteil wurden hier Axiome der Ökonomie erschüttert. Wie die Politikwissenschaft, welche den Zusammenbruch des Sozialismus nicht vorhergesagt hatte, könnte eine sich mehr als Sozialwissenschaft begreifende Ökonomie weigern, sich „den Schuh anzuziehen". Als man John Maynard Keynes vorwarf, seine Theorie werde langfristig nicht funktionieren, erwiderte er: „In the long run we are all dead". Die Vermutung liegt nahe, daß er damit nicht meinte, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein.

Doch in den Wirtschaftswissenschaften wird viel mit Methoden der sogenannten exakten Wissenschaften gearbeitet, Prognosen über Wirtschaftswachstum, Inflation, Zinsentwicklung oder Arbeitslosigkeit „ausgerechnet". Doch dabei gilt regelmäßig die ceteris paribus Klausel, die das reale Leben aber nicht kennt. Wirtschaft ist das Ergebnis des wirtschaftlichen Handelns aller Individuen. Das aber ist schwer zu prognostizieren, denn es ist nicht notwendigerweise rational, findet nicht unter Kenntnis aller Umstände statt und läßt sich folglich nur sehr mittelbar steuern. Geld ist in diesem System ebenso unwägbar, denn eine Banknote ist zunächst einmal nur ein Stück bedrucktes Papier, dem das wirtschaftliche Subjekt Vertrauen schenkt. Was geschieht, wenn dieses fehlt, hat die Zigarettenwährung nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Vertrauen ist aber nicht nur eine ökonomische, sondern zuvorderst auch eine psychologische Frage.

Das Vertrauen in den Euro wurde durch die Preiserhöhungen im Rahmen der Währungsumstellung zwar erschüttert, und der Konsument konnte dies durch eine Änderungen seines Kaufverhaltens nur bedingt bestrafen. Aber auch in Deutschland, wo viele gerne an ihrer liebgewonnen Mark festgehalten hätten, lehnt heute eine Mehrheit selbst vor dem Hintergrund der Krisendebatten den Euro nicht ab.

Die Kritiker haben Recht mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten mit einer Gemeinschaftswährung in einem Raum ohne gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik. Hier müßten die Politiker gefragt werden, die seinerzeit die Einführung des Euro beschlossen, ob sie damit eventuell die Absicht verbanden, das Pferd von hinten aufzuzäumen, also mit einer gemeinsamen Währung die weitere Integration der EU über kurz oder lang zu erzwingen.

Es ist aber auch richtig, daß EINE Währung in einem nicht homogenen Territorium nichts Ungewöhnliches ist und zu Konflikten führt. In Deutschland wollen drei Bundesländer gegen den Finanzausgleich klagen. Doch, provokativ gefragt, auf eine wie kleine Mikroebene sollte man mit einer Währung gehen, um Unterschiede zwischen armen und reichen Stadtvierteln NICHT zum Problem des Geldes werden zu lassen? Griechenland ist eine kleine Ökonomie im Euroraum im Vergleich zum bankrotten Kalifornien in den USA. Gewiß, während die Europäer Rettungsschirme spannen, kommen die Staaten der USA nicht für die Schulden der anderen auf, so wie es die „No bail out"-Klausel eigentlich auch für den Euroraum vorgesehen hatte. Es wäre jedoch sicher vermessen zu behaupten, daß 49 Staaten der USA mit einem Bankrott Kaliforniens schließlich keine Lasten zu tragen hätten – etwa durch Migration?

Niemand behauptet nun, daß die vier Professoren-Kläger in Deutschland Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty und andere Kritiker ausschließlich im Unrecht seien. Doch auch die Argumente der Befürworter sind nicht falsch. Traurig ist einzig, daß die meisten Experten in Publikationen und Talkshows dazu neigen, einzelnen Aspekten, die ihrer Kritik oder Befürwortung zupaß kommen, breiten Raum geben, andere Argumente aber aussparen. Auch mehr oder weniger anonymisierte Kommentatoren von Blog-Beiträgen berufen sich gerne auf genehme Texte, unter anderem trotz allgemein staatskritischer Meinung plötzlich auf gewesene Amtsträger und Vertreter der Mainstream-Medien wie der Staatsekretär von rot-grün im Wirtschaftsministerium Heiner Flassbeck, der heute bei der UNCTAD ist, und den Financial Times Deutschland-Journalisten Thomas Fricke. Beide Beiträge beruhen ausschließlich auf statistischen Daten, die Thesen untermauern. Es gibt aber noch mehr Datenmaterial und es ließen sich bezüglich des Euro außer vielleicht über Luxemburg über andere Staaten ähnlich kritische Beiträge verfassen. Von den USA und dem Dollar als Weltleitwährung nicht zu sprechen. Solche Artikel bestätigen nichts weiter als: ja, es gibt Probleme, die man im Auge behalten muß.

Aber zurück zu Estland: Die estnische Krone ist auf der Basis eines currency boards (1 DM: 8 EEK) eingeführt worden, die Nationalbank und die Regierung haben damit also von Beginn an auf die volle Autorität über ihre Währung verzichtet.

Und zurück zur Systemfrage: Mit einem Sammelsurium an zutreffenden Fakten langfristige Prognosen zu wagen, ist tatsächlich gewagt. Oswald Spengler prognostizierte 1918, mit den Napoleonischen Kriegen habe der Untergangs des Abendlandes begonnen.

Zurück zu Estland und der Eurozone: Einstweilen ist der Euro trotz aller Krisendiskussion stabil auch gegenüber dem Dollar, dessen Basis in den USA sich noch viel weniger sehen lassen kann als die europäische. Seine Leitwährungsfunktion wird weltweit zunehmend in Frage gestellt. Mit der Aufnahme eines Landes in die Eurozone, welches als eines der wenigen in der EU und der Eurozone die Maastricht-Kriterien erfüllt, ist auch ein Zeichen der Stärke, die EU zweifelt nicht an der Gemeinschaftswährung. Schwarzmalerei könnte psychologisch das Vertrauen aus dem Lot bringen.

Postimees meldete heute, daß 60% der Menschen in Estland, also nicht nur Esten, die Einführung des Euro befürworten.