Estland wählt am kommenden Sonntag ein neues Parlament. Der 2009 als Einzelkandidat angetretene estnische Angeordnete des EU-Parlaments, der Moderator Indrek Tarand, spricht von „aufständischen“ Wahlen. Die Wähler glaubten den Versprechungen der Parteien und Politiker nicht mehr, daher gebe es in diesem Jahr so viele Einzelkandidaten. Er forderte die Wähler auf, Ihre Einflußmöglichkeiten nicht zu unterschätzen.
Was steckt technisch dahinter? Estlands Wahlrecht ist eine Verhältniswahl mit Personenstimmen. Für den an andere Verhältniswahlsysteme gewöhnte Beobachter sieht der Stimmzettel sehr ungewöhnlich aus. Es ist ein faktisch leeres Blatt mit einem freien Feld. Daneben steht: „ich wähle den Kandidaten Nummer“. Der Wähler muß also mit einem Kugelschreiber die Nummer des bevorzugten Kandidaten in dieses Feld eintragen. Der Effekt ähnelt dem der österreichischen Vorzugsstimme. Der Wähler bevorzugt einen Kandidaten und wählt mit ihm auch die Liste seiner Partei. Es ist ein kompliziertes mathematisches Verfahren, wie hoch die Quote ist, um ein „persönliches“ Mandat auf diese Weise zu erreichen. Da sich aber viele Wähler stärker nach Personen als nach Parteien richten und selbst Parteianhänger vorwiegend für die bekannteren Politiker stimmen, erreichen diese in aller Regel die Quote ohne Schwierigkeiten und ziehen wie eine Lokomotive auf Kompensationsmandaten Parteifreunde mit in das Parlament, für die entschieden weniger Wähler ihre Personenstimme abgegeben haben. Der estnisch-amerikanische Politologe Rein Taagepera hat dieses System deshalb wiederholt als Enttäuschungsmaschine der Wähler kritisiert.
Nichtsdestotrotz bietet dieses System parteilosen und unabhängigen Kandidaten die Möglichkeit zur Kandidatur. Dabei zu gewinnen ist in den zwölf etwas größeren Wahlkreisen einfacher, als vergleichsweise in Deutschland als Unabhängiger ein Direktmandat zu erringen, aber deshalb noch lange nicht einfach. Statistiker haben berechnet, daß in einigen Wahlkreisen ein Einzelkandidat, um gewählt zu werden, 20% der Stimmen erhalten muß – ein schier unerreichbares Ziel, wohingegen in Raplamaa es nur 7% bedürfe, doch hier kandidierten mit Ministerpräsident Andrus Ansip und seinem zweimaligen Vorgänger Mart Laar sehr bekannte estnische Politiker.
Mit einem Wort, ein Erfolg ist nicht ausgeschlossen. Bevor sich das estnische Parteiensystem nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 stabilisiert hatte, gelang das 1992 zwei Politikern und anschließend bei Parlamentswahlen nicht wieder. Indrek Tarand ist damit die dritte Ausnahme, die dieses Jahr zahlreiche Personen zur Kandidatur ermunterte. Neben vielen Nationalisten und sonstigen auch zwielichtigen Gestalten etwa die bekannte Sängerin Siiri Sisask.
Die Unwägbarkeiten beschreiben die Politologen Rein Toomla und Ott Lumi; sehr viele Wähler entschieden sich erst in der Woche vor dem Urnengang, die Parteien dürften also ihre Bemühungen nicht ruhen lassen, zumal dieses Jahr die Umfragewerte Achterbahn fahren. Die Zentrumspartei hat deshalb die Wahlkommission aufgefordert, dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen und die Veröffentlichung von Umfragen so kurz vor den Wahlen einzuschränken (, was kein Thema für jene ist, die auf Umfragewerte pfeifen). Die Nervosität der Partei Savisaars erklärt der Journalist Kalle Muuli damit, daß gerade für sie ein schlechteres Ergebnis als 29 Sitze dramatisch wäre nach vier Jahren in der Opposition, während die Popularität der Regierung in der Wirtschaftskrise gelitten habe.
Ein weiterer für den deutschen Beobachter überraschender Aspekt ist, daß ab sofort alle 625 Wahllokale täglich von zwölf bis acht Uhr abends geöffnet sind, um den Menschen, die sich am Wahltag nicht am Wohnort befinden, die Stimmabgabe zu ermöglichen. Dieser Punkt streift ein viel diskutiertes Thema diverser Wahlrechte, wie man den Bürgern das Wählen zwecks Steigerung der Wahlbeteiligung bequemer machen kann. Während es in Deutschland nur die auch in Estland bekannte Briefwahl gibt mit dem Nachteil, daß daheim niemand so recht prüfen kann, wer wie wählt, kann man im benachbarten Lettland am Wahltag und nur am Wahltag in einem beliebigen Wahllokal abstimmen. Während das dort auch bedeutet, im entsprechenden von fünf Wahlkreisen des Landes abzustimmen, kann der estnische Wähler auch andernorts eine Stimme für seinen Wahlkreis abgeben.
Mit dem geflügelten Wort E-stonia, ein Wortspiel mit dem für den elektronischen Cyberspace stehenden E und dem Namen des Landes auf Englisch, wird beschrieben, was in Estland noch geht: man kann auch elektronisch im Internet wählen. Identifikationskarten wurden schon vor längerer Zeit eingeführt, es bedarf am Rechner nur des entsprechenden Lesererätes. Darüber hinaus kann man in diesem Jahr sogar erstmals per Handy wählen (Die Doppeldeutigkeit des Verbs wählen läßt sich übrigens auch im estnischen – „valima“ – nicht vermeiden). Dennoch, die meisten Wähler gehen traditionell am Wahltag ins Wahllokal.
P.S.:
Am Montag wandten sich zahlreiche Einzelkandidaten an die Wahlkommission mit einem Protestschreiben gegen die Übertragung von Stimmen unerfolgreicher Kandidaten an die starren Listen der Parteien auf nationaler Ebene. Hinter dem Anliegen steckt aber offensichtlich mehr der Wunsch nach Sichtbarkeit in den Medien. Die Einzelkandidaten befürchten - zu Recht - daß viele Wähler, die keine Partei wählen wollten, wegen der in allen Zeitungen als gering bezeichneten Aussicht der Parteilosen Mandate zu erringen, erst gar nicht zu Wahl gingen. Viele Wähler hätten Angst, so die Einzelkandidaten, daß ihre Stimmen im Falle der Erfolglosigkeit ihres Kandidaten an eine andere Partei übertragen wird. Das ist, wie die Wahlkommission betonte, freilich nicht so. Das gilt nur für Kandidaten mit Parteizugehörigkeit. Mit einem Wort, selbstverständlich werden die Stimmen erfolgloser Einzelkandidaten an niemanden übertragen und sind damit verfallen. Da das Parlament Riigikogu 101 Mandate hat, die in jedem Fall vergeben werden, erhalten die verfallenen Wähleranteile so indirekt andere Parteien Das gilt aber auch für alle Stimmen für Parteien, die unter der 5%-Hürde blieben. Ein Sturm im Wasserglas also, ein hilfloser Akt der Einzelkandidaten gegen Wahlenthaltung. Letztendlich ist es für den Wähler egal, ob er nicht zur Wahl geht oder einen erfolglosen Einzelkandidaten wählt. Das Ergebnis ist das gleiche.
Was steckt technisch dahinter? Estlands Wahlrecht ist eine Verhältniswahl mit Personenstimmen. Für den an andere Verhältniswahlsysteme gewöhnte Beobachter sieht der Stimmzettel sehr ungewöhnlich aus. Es ist ein faktisch leeres Blatt mit einem freien Feld. Daneben steht: „ich wähle den Kandidaten Nummer“. Der Wähler muß also mit einem Kugelschreiber die Nummer des bevorzugten Kandidaten in dieses Feld eintragen. Der Effekt ähnelt dem der österreichischen Vorzugsstimme. Der Wähler bevorzugt einen Kandidaten und wählt mit ihm auch die Liste seiner Partei. Es ist ein kompliziertes mathematisches Verfahren, wie hoch die Quote ist, um ein „persönliches“ Mandat auf diese Weise zu erreichen. Da sich aber viele Wähler stärker nach Personen als nach Parteien richten und selbst Parteianhänger vorwiegend für die bekannteren Politiker stimmen, erreichen diese in aller Regel die Quote ohne Schwierigkeiten und ziehen wie eine Lokomotive auf Kompensationsmandaten Parteifreunde mit in das Parlament, für die entschieden weniger Wähler ihre Personenstimme abgegeben haben. Der estnisch-amerikanische Politologe Rein Taagepera hat dieses System deshalb wiederholt als Enttäuschungsmaschine der Wähler kritisiert.
Nichtsdestotrotz bietet dieses System parteilosen und unabhängigen Kandidaten die Möglichkeit zur Kandidatur. Dabei zu gewinnen ist in den zwölf etwas größeren Wahlkreisen einfacher, als vergleichsweise in Deutschland als Unabhängiger ein Direktmandat zu erringen, aber deshalb noch lange nicht einfach. Statistiker haben berechnet, daß in einigen Wahlkreisen ein Einzelkandidat, um gewählt zu werden, 20% der Stimmen erhalten muß – ein schier unerreichbares Ziel, wohingegen in Raplamaa es nur 7% bedürfe, doch hier kandidierten mit Ministerpräsident Andrus Ansip und seinem zweimaligen Vorgänger Mart Laar sehr bekannte estnische Politiker.
Mit einem Wort, ein Erfolg ist nicht ausgeschlossen. Bevor sich das estnische Parteiensystem nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 stabilisiert hatte, gelang das 1992 zwei Politikern und anschließend bei Parlamentswahlen nicht wieder. Indrek Tarand ist damit die dritte Ausnahme, die dieses Jahr zahlreiche Personen zur Kandidatur ermunterte. Neben vielen Nationalisten und sonstigen auch zwielichtigen Gestalten etwa die bekannte Sängerin Siiri Sisask.
Die Unwägbarkeiten beschreiben die Politologen Rein Toomla und Ott Lumi; sehr viele Wähler entschieden sich erst in der Woche vor dem Urnengang, die Parteien dürften also ihre Bemühungen nicht ruhen lassen, zumal dieses Jahr die Umfragewerte Achterbahn fahren. Die Zentrumspartei hat deshalb die Wahlkommission aufgefordert, dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen und die Veröffentlichung von Umfragen so kurz vor den Wahlen einzuschränken (, was kein Thema für jene ist, die auf Umfragewerte pfeifen). Die Nervosität der Partei Savisaars erklärt der Journalist Kalle Muuli damit, daß gerade für sie ein schlechteres Ergebnis als 29 Sitze dramatisch wäre nach vier Jahren in der Opposition, während die Popularität der Regierung in der Wirtschaftskrise gelitten habe.
Ein weiterer für den deutschen Beobachter überraschender Aspekt ist, daß ab sofort alle 625 Wahllokale täglich von zwölf bis acht Uhr abends geöffnet sind, um den Menschen, die sich am Wahltag nicht am Wohnort befinden, die Stimmabgabe zu ermöglichen. Dieser Punkt streift ein viel diskutiertes Thema diverser Wahlrechte, wie man den Bürgern das Wählen zwecks Steigerung der Wahlbeteiligung bequemer machen kann. Während es in Deutschland nur die auch in Estland bekannte Briefwahl gibt mit dem Nachteil, daß daheim niemand so recht prüfen kann, wer wie wählt, kann man im benachbarten Lettland am Wahltag und nur am Wahltag in einem beliebigen Wahllokal abstimmen. Während das dort auch bedeutet, im entsprechenden von fünf Wahlkreisen des Landes abzustimmen, kann der estnische Wähler auch andernorts eine Stimme für seinen Wahlkreis abgeben.
Mit dem geflügelten Wort E-stonia, ein Wortspiel mit dem für den elektronischen Cyberspace stehenden E und dem Namen des Landes auf Englisch, wird beschrieben, was in Estland noch geht: man kann auch elektronisch im Internet wählen. Identifikationskarten wurden schon vor längerer Zeit eingeführt, es bedarf am Rechner nur des entsprechenden Lesererätes. Darüber hinaus kann man in diesem Jahr sogar erstmals per Handy wählen (Die Doppeldeutigkeit des Verbs wählen läßt sich übrigens auch im estnischen – „valima“ – nicht vermeiden). Dennoch, die meisten Wähler gehen traditionell am Wahltag ins Wahllokal.
P.S.:
Am Montag wandten sich zahlreiche Einzelkandidaten an die Wahlkommission mit einem Protestschreiben gegen die Übertragung von Stimmen unerfolgreicher Kandidaten an die starren Listen der Parteien auf nationaler Ebene. Hinter dem Anliegen steckt aber offensichtlich mehr der Wunsch nach Sichtbarkeit in den Medien. Die Einzelkandidaten befürchten - zu Recht - daß viele Wähler, die keine Partei wählen wollten, wegen der in allen Zeitungen als gering bezeichneten Aussicht der Parteilosen Mandate zu erringen, erst gar nicht zu Wahl gingen. Viele Wähler hätten Angst, so die Einzelkandidaten, daß ihre Stimmen im Falle der Erfolglosigkeit ihres Kandidaten an eine andere Partei übertragen wird. Das ist, wie die Wahlkommission betonte, freilich nicht so. Das gilt nur für Kandidaten mit Parteizugehörigkeit. Mit einem Wort, selbstverständlich werden die Stimmen erfolgloser Einzelkandidaten an niemanden übertragen und sind damit verfallen. Da das Parlament Riigikogu 101 Mandate hat, die in jedem Fall vergeben werden, erhalten die verfallenen Wähleranteile so indirekt andere Parteien Das gilt aber auch für alle Stimmen für Parteien, die unter der 5%-Hürde blieben. Ein Sturm im Wasserglas also, ein hilfloser Akt der Einzelkandidaten gegen Wahlenthaltung. Letztendlich ist es für den Wähler egal, ob er nicht zur Wahl geht oder einen erfolglosen Einzelkandidaten wählt. Das Ergebnis ist das gleiche.
Interessant wäre zu erwähnen, dass die elektronische Stimmen schon jetzt abgegeben werden können und man sogar nach der Abgabe der Stimme sich nochmal umentscheiden kann.
AntwortenLöschenErsteres dachte ich sei aus dem Text hervorgegangen. Die Möglichkeit zur Umentscheidung habe ich nicht erwähnt, Entschuldigung. Arvids Dravnieks schlägt das in Lettland auch vor. Ich finde das etwas diskutabel. Wenn man sich nicht sicher ist, kann man ja bis zum spätmöglichsten Zeitpunkt warten.
AntwortenLöschen"Ein Sturm im Wasserglas also, ein hilfloser Akt der Einzelkandidaten gegen Wahlenthaltung. Letztendlich ist es für den Wähler egal, ob er nicht zur Wahl geht oder einen erfolglosen Einzelkandidaten wählt. Das Ergebnis ist das gleiche."
AntwortenLöschenaha. im Klartext: all diejenigen Bürger, die dem etablierten Parteiensystem mißtrauen und daher vielleicht einen Einzelkandidaten wählen möchten, sollen statt von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen lieber zu Hause bleiben. Ist das die Aussage? welchem veralten / überkommenen Politik- bzw. Demokratieverständnis entspringt denn bitte eine solche Auffassung?
Ich habe auf Sie gewartet, moevenort. Natürlich polemisieren Sie wieder, anstatt sich in die Wahlrechtsdiskussion einzuschalten. Wählen kann man in einer Demokratie nur den, der sich zur Wahl stellt. Und der wird nur gewählt, wenn man wenigsten den ein oder anderen hat, der eine ähnliche Wahlentscheidung trifft.
AntwortenLöschenUnd was ist neuerlich Ihr Demokratieverständnis, etabliertes Parteiensystem usw. Haben Sie sich mal Gedanken zu der Frage gemacht, was etabliert heißt?
Wenn Sie halbwegs des Deutschen mächtig wären, verstünden Sie, daß nicht ich sage, die Wähler könenn zu Hause bleiben, sondern die Einzelkandidaten diese Befürchtung der Wähler vorbringen und dies im Rahmen des estnischen Wahlgesetzes auch zutreffend ist. Das hat mit meiner Meinung überhaupt nichts zu tun.
Aber mit dem Leseverständnis hatten Sie ja auch schon vorher so Ihre Schwierigkeiten.
Alles weitere finden Sie hier:
http://axelreetz.blogspot.com/2011/03/orte-und-personen-im-virtuellen-raum.html
P.S. moevenort, nachdem Sie mir Crouch empfohlen haben, habe ich auch eine Empfehlung für Sie: Dorothee de Neve: NichtwählerInnen - eine Gafahr für die Demokratie?, Barbara Budrich 2009
AntwortenLöschen@ moevenort: Damit wir uns nicht nicht mißverstehen. Ich teile die Einschätzung von Albatros, daß von Estland abschweifende politiktheoretische Diskussionen in dieser Kommentarkolumne nichts verloren haben. Der Post steht auch in meinem Blog. Kommentare, die nichts mit Estland zu tun haben, also bitte dort.
AntwortenLöschennoch einmal @ moevenort: Ich sehe gerade, daß Sie bei antyx kommentierten, Sie hätten schon einen PhD; Sie promovieren also in Germany das zweite Mal? Darf man das politikwissenschftliche Thema erfahren?
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