Montag, August 18, 2025

Waldüberwachung

Einiges Digitales sind wir ja bereits gewöhnt, was Estland betrifft. Aber alle, die sich nicht nur in Tallinn, Tartu oder Pärnu aufhalten, werden schnell einsehen, dass Estland ein Land der Wälder ist. In der Kritik geriet zuletzt allerdings die massive Erhöhung des Holzeinschlags. Von "Kahlschlag für Holzpellets" und "Gefährdung für Estlands Wälder" war da die Rede (Robin Wood). Estlands Regierung wollte dem staatlichen Energieunternehmen 10 Millionen Euro Zuschuss über zwei Jahre zahlen, um in alten Kraftwerken Holz zu verbrennen. Ziel: die Energiekosten im strukturschwachen Nordosten des Landes niedrig halten. 

Bewaldete Nutzungsziele

Dem stehen zunächst einmal die aktuellen Werbeslogans der Tourismusindusstrie entgegen. Erst kürzlich wurde ein "Waldwanderweg" durch alle drei baltischen Staaten eröffnet. "Endlos scheinende Wälder laden zum Waldbaden und zur Sichtung von Bären, Elchen und Wölfen ein." (Visit Estonia) Endlos scheinend?  Gezielt wird auch in deutschen Zeitungen für "Waldbaden in Estland" geworben (SZ). Und manche virtuelle Beeinflusser bewerben diese Wälder auch deshalb, weil sie vor allem gern günstige Preise und kostenlose Pressereisen in Anspruch nehmen (siehe "Landmeedchen")

Beim Wald zuschlagen

Aber auch für ganz andere Klientel werden "endlose Möglichkeiten" beworben, und damit ist gemeint: Geldverdienen mit Wald. Investieren, und immer dann Geld verdienen, wenn der Baum groß genug und der Holzpreis hoch ist - von Ökologie und dem Erhalt der Natur ist hier keine Rede, und der "Mythos des Waldes" kommt auf diese Weise ganz anders daher. Auf speziellen Webseiten wird um Investor/innen geworben, die "Geld in Wald" anlegen, um dann "Wald zu Geld" zu machen. Die entsprechenden Firmen geben offen zu, auch NATURA2000-Waldflächen mit Naturschutzeinschränkungen gezielt aufzukaufen. 

Statistisch gesehen liegt der Anteil von Waldflächen immer noch bei über 50% der Landesfläche Estlands. Und was unternimmt Estland als Nächstes? Welche Interessen werden bevorzugt? Die einen weisen auf steigende Populationen von Wolf und Bär hin - die Freunde des bewaffneten Waldspaziergangs (Jäger/innen). Die andere - siehe oben - sehen vor allem zu viele Rodungen. Die estnische Regierung startet das Projekt "Digitale Wälder". Slogan: "Forstdaten nahe an die Echtzeit".

Von der Datenautobahn zum Datenwaldweg? 

Da wäre zunächst mal zu klären: Forstdaten?  Ja, es geht zunächst um "Qualität und Zugänglichkeit von Daten". Typisch Estland (E-stonia)? Man könnte sich ja auch andere Ziele setzen: ökologisch intakte Wälder, saubere Umwelt, Schutz gefährdeter Tier- und Pflanzenarten, nachhaltig lebensfähige, erhaltenswerte Natur. Reicht es da, vor allem erst einmal "gute Daten" haben zu wollen? Es klingt wie ein typisches Argument aus der Wissenschaft: wir wissen viel zu wenig (um handeln zu können?), also brauchen wir mehr Geld für die Forschung. "Wir möchten erreichen, dass jede/r in der Lage ist, den aktuellen Zustand unserer Wälder in Echtzeit anzusehen", meint Antti Tooming vom estnischen "Klimaministerium". 

Also Daten zum Beispiel zu Baumhöhen, Holzvorräten und abgestorbenem Bestand – aus Satellitenaufnahmen, Laserscans und der Statistischen Waldinventur. Das Ministerium betont einerseits, der Anteil geschützer Waldflächen habe sich in den vergangenen Jahrzehnten erhöht. "Estland setzt verstärkt auf Cloud-Technologien und KI-gestützte Datenanalyse", notiert auch die "Wirtschafskammer Österreich" und lobt, wie sollte es anders sein, die "digitale Vorreiterrolle Estlands". 

Alt muss weg?  

Andererseits gibt es auch Aussagen wie diese: "Aufgrund des hohen Anteils älterer Wälder ist eine nachhaltige Bewirtschaftung erforderlich, um die Kapazität zur Kohlenstoffbindung zu erhöhen. Außerdem sind ältere Wälder anfälliger für Stürme, Krankheiten und Brände, und ihre Fähigkeit, Kohlenstoff zu binden, ist viel geringer als die von Wäldern in einem optimalen Wachstumsstadium." Da wird dann der Begriff "nachhaltig" zur Vokabel für "immer wieder Bäume rechtzeitig fällen, andauernd". (kliimaministeerium)

Ist Estland also ein Land der Natur? Was passiert in Zukunft mit den estnischen Wäldern? Wer einen Waldspaziergang machen möchte, und unklar ist, was er / sie da riecht, sieht und fühlt, kann dann vermutlich in Zukunft einfach den Laptop oder Tablet starten und .... sich an der Frische der Daten erfreuen. 

Mittwoch, August 06, 2025

Das Schweigen brechen - mit estnischer Ironie

Es ist wohl allgemein bekannt, dass man mit Estinnen und Esten sehr gut zusammen sitzen kann, und auch wenn minutenlang kein Wort gesagt würde, von estnischer Seite wäre wohl zu hören: es war eine schöne Zeit! Da lässt ein Bericht im öffentlich-rechtlichen Nachrichtenportal ERR aufhorchen, dessen Überschrift behauptet: Die Esten - stille Meister der Ironie. Schweigend ironisch? Oder wie jetzt? 

Humor-Gipfeltreffen

Zitiert wird hier Piret Voolaid, seit 2023 Direktorin des Estnischen Literaturmuseums. Sie sei Teilnehmerin gewesen auf einer "Humorkonferenz" in Polen, an der 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilgenommen hätten, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Nun hat man aber offenbar nicht diese 200 gefragt: "Verstehen denn Estinnen und Esten Humor"? 

Veranstalter der Konferenz war die "International Society for Humor Studies (ISHS)". Hier sind auch Estinnen und Esten präsent, Liisi Laineste, ebenfalls vom Estnischen Literaturmuseum, ist Vorstandsmitglied. Litauische Mitglieder sind vereinzelt zu finden, aus Lettland dagegen niemand (kein Humor?). 

Können Esten dermaßen lauthals
lachen? Vor allem, wenn sie 
solche Lexika-ähnlichen Bücher
lesen? Oder bekam dieser Junge
gerade gesagt: "Lerne das bis morgen
auswendig, als Hausaufgabe ..."
(Illustration ERR zum 
Thema)
Im Konferenzprogramm finden sich "estnisch-polnische Projekte zu Humor im öffentlichen Raum". Ein erstaunlicher Austausch wahrscheinlich, wenn hier ein weitgehend katholisch geprägtes Land mit einem "unreligiös" geprägten anderen Land Wege gemeinsamen Lächelns sucht. Die Litauer (ebenfalls katholisch) sind ebenfalls im Programm der Konferenz präsent und stellen Vita Žibaitytė als populärste weibliche Comedian Litauens vor (hat Estland Ähnliches?). Ein deutscher Beitrag klingt vielsagend: "How to survive with German humor?" Eine weitere deutsche Studie beschäftigt sich sogar mit Russland: "Putins strategischer Gebrauch von Humor". Manche estnische Beiträge wirken eher nüchtern: "historische Narrative und Humor als ein Werkzeug um nationale Traumata in estnisch-russischen Literaturübersetzungen anzusprechen" (ISHS). Aber, wie Piret Voolaid sagt: "Niemand redet so ernst über Humor wie wir Humorwissenschaftler." (ERR)

Sarkasmus, Ironie, dunkler Humor? 

Was aber ist eigentlich estnischer Humor? "Die Esten sind so ein kleines Volk – keiner kennt sie – und deswegen hofft man wenigstens durch Witze aufzufallen". Ein Zitat von "Johanna in Estland", sich berufend auf eine Aussage von estnischer Seite. Auf "Youtube" gibts tatsächlich "ComedyEstonia" (estnisch, natürlich - auch auf eigener Webseite). Todor Ovtcharov behauptet auf RadioFM4, wer in Estland "Prost" sage, gelte schon als geschwätzig. 

Pascal Cabart hat immerhin 10 Witze in Tallinn gesammelt; Nummer 3 geht so: "Warum haben Finnen immer ein Taschentuch dabei? Damit sie sich die Tränen abwischen können, wenn sie auf Esten herabschauen." Bei "Orange smile" heißt es etwas hintergründig: "Die Esten können zu jedem Thema Witze machen, aber die Liebe zur Wahrheit macht ihre Witze nicht immer politisch korrekt." 

Stille Wasser 

Die Frage nach dem estnischen Humor bleibt als vorerst ohne klare Antwort. Nach Ansicht mehrerer estnischer Spielfilme könnte man eher auf "dunklen estnischen Sarkasmus" schließen - aber ist das Bestandteil estnischer Mentalität? Wenig Worte machen - aber wenn, dann mit hintergründigem Humor. Vielleicht. Piret Voolaid meint: "Die Esten sind die Meister des stillen Sarkasmus." Nun gut, Voolaid untersucht vor allem Wortspiele - die können ja auch einfach geschrieben werden, ohne Wortschwall. Die Situation während der Covid-19-Pandemie sei auf estnischer Seite oft unter Verwendung von Wortspielen bewältigt worden. Und "Humorstereotypen" werden auch beobachtet: während Franzosen gegen eine Steuererhöhung auf die Staße gehen und eine Revolution starten, tun es eben Estinnen und Esten durch Tanz und Gesang (untersucht wurden Memes im Internet). 

Außerdem wird im Estnischen Literaturmuseum auch der Humor früherer Zeiten untersucht. Zitat Voolaid: "Die Frage ist nicht, ob es in hundert Jahren noch lustig sein wird, sondern es gibt Aufschluss über das, was in der Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt geschah". (ERR)