Vor dem Hintergrund von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, und nach 20% Preissteigerung im Jahr 2022 startet Estland in den Wahlkampf für die anstehende Parlamentswahl. Am 5. März werden in Estland die 101 Sitze im Riigikogu neu vergeben - bereits ab dem 27. Februar geben die Wahlberechtigten ihre Stimme ab -
dann beginnt der Zeitabschnitt, ab dem bereits online gewählt werden
kann.
Schon jetzt wird darüber spekuliert, wen Präsident Karis nach der Wahl mit der Regierungsbildung beauftragen könnte - denn das ist gewöhnlicherweise die stimmenstärkste Partei. Präsident Alar Karis warnte bereits Ende November vor einer Fokussierung nur auf einen Zweikampf
zwischen der regierenden Reformpartei und der rechtpopulistischen EKRE.
Die Wahl allein auf ein Duell dieser beiden Parteien zu reduzieren würde
seiner Meinung nach den Blick auf die wirklichen Alternativen
verstellen, meinte er. (err)
Der Wahlslogan der Reformpartei wird offenbar " "Kindlates kätes Eesti" sein ("Estland in sicheren Händen"). Damit sind wohl vor allem die Hände der Regierungschefin Kaja Kallas gemeint, die sich aber keineswegs sicher sein kann, dass die Reformpartei wieder stärkste Partei im Parlament wird. Die Energieversorgung, Landesverteidigung und weitere Hilfe für die Ukraine stehen wohl auf der Tagesordnung. Weiterhin verspricht die Reformpartei die Schaffung eines "Klimagesetzes", das die Erreichung der Klimaziele der EU sichern helfen soll. (err)
Die oppositionelle EKRE startet mit dem Slogan "Päästame Eesti" ("Wir retten Estland") in den Wahlkampf. "Die Frage ist, ob Estland ein Nationalstaat bleibt," meint Parteichef Martin Helme. "Oder ob die Esten hier
zur Minderheit werden und die estnische Sprache nach Englisch und
Russisch zu einer Art drittklassiger Sprache wird." Das Wahlprogramm heißt bei EKRE "Nationales Verteidigungsprogramm" und stellt konkrete militärstrategische Forderungen auf: die Verteidigung müsse im Falle eines Angriffs so stark sein, dass Estland nicht erst besetzt und dann wieder befreit werden müsse; Ausgaben in Höhe von 3% BIP seien also das Mindeste.
Bei den Sozialdemokraten der SDE (Sotsiaaldemokraatlik Erakond), gegenwärtig Koalitionspartner der Reformpartei, hat sich die Europaabgeordnete Marina Kaljurand entschieden wieder für das estnische Parlament zu kandidieren. Kaljurand, frühere Außenministerin und auch schon mal Botschafterin Estlands in Moskau, will es nun offenbar anders herum machen wie schon 2019: damals holte sie zunächst einen Sitz im Parlament, dann sicherte sie sich einen Platz im Europaparlament (err) Erst seit einigen Monaten frisch gewählter SDE-Vorsitzender ist Lauri Läänemets, der seit Juli 2022 auch estnischer Innenminister ist. Die SDE betont, trotz der aktuellen Inflation sei die Anhebung des Lebensstandards für die Estinnen und Esten wichtig und unterstützt Forderungen nach Lohnerhöhungen.
Neu auf der politischen Landkarte Estlands ist "
Parempoolsed" ("die Rechten"). Erst im Spätsommer 2022 gegründet haben sie mit
Siim Valmar Kiisler einen Vertreter im Parlament, mehrfacher Ex-Minister, der zuletzt der Isamaa (Varterlandspartei) angehört hatte, 2019 als Nachrücker ins Parlament kam und dann zu den "Rechten" übertrat (
err). Auch die Farbenpsychologie möchte "Parempoolsed" gerne neu sortieren - als ihre Parteifarbe wählten sie orange. Parteichefin ist
Lavly Perling, eine frühere Staatsanwältin. Sie sieht ihre Partei nicht als "rechtsradikal", sondern betont den estnischen Namen der Partei: "parem" bedeute eben nicht nur "rechts" auf Estnisch, sondern auch "besser". (
err)
Die "Isamaa" (Vaterlandspartei), aktueller Koalitionspartner von Sozialdemokraten und Reformpartei, wird sich demzufolge wohl eher nicht gefreut haben über die Abspaltung der "Parempoolsed". Isamaa wirbt mit einer Erhöhung der Kinderfreibeträge, Gehaltserhöhungen für Pädagog/innen und Hochschullehrer/innen, und will mehr in die Landesverteidigung investieren, ggf. sogar mehr als 3% BIP. Parteichef Seeder erklärt sich offen für alle Optionen zukünftiger Energieversorgung für Estland: erneuerbare Energien, Ölschiefer, oder auch Atomkraft. (err) Außerdem will Isamaa die Strafen für unzureichende estnische Sprachkenntnisse vervielfachen, und das soll auch für alle Abgeordneten der Regionalparlamente und für Unterricht an den Hochschulen gelten - das klingt schon ganz ähnlich wie die Tonlage bei EKRE. (err)
Schon länger existiert "Eesti 200", die bei den Wahlen 2019 knapp an der 5%-Hürde scheiterte. Die Partei scheint sich unsicher zu sein, wie viele Wählerinnen und Wähler sie diesmal an sich binden kann - und fiel kürzlich mit dem Vorschlag auf, die Verteidigungsausgaben auf 6% BIP erhöhen zu wollen (err). Mit gemeint ist damit offenbar auch eine Stärkung des Zivilschutzes. Gegenwärtig liegt die Partei in Umfragen immerhin bei 10% und bekam kürzlich Zuwachs von Gea Kangilaski, stellvertretende Bürgermeisterin von Tartu, die bisher für die Sozialdemokraten angetreten war. (err)
Mit dem Slogan "Tark areng" (intelligente Entwicklung) zieht die estnische Grüne Partei (
Rohelised) in den Wahlkampf. Die Grünen plädieren für eine vollständige Umstellung auf erneuerbare und dezentrale Energie, einen höheren Schutzstatus für die estnischen Wälder, Verbot von Jagdtourismus, Beseitigung von Billiglöhnen und für eine Grundsicherung im Alter.
Bleibt noch die Zentrumspartei ("Eesti Keskerakond"), Hier wird mit dem Spruch "Julgelt inimeste heaks" ("Tapfer für die Menschen") geworben, und Ex-Regierungschef Jüri Ratas ist weiterhin Spitzenkandidat. Erst im Frühjahr 22, nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, wurde die Kooperation mit "Einiges Russland" für beendet erklärt, und es ist schwer kalkulierbar, ob sich das Stimmenniveau von gegenwärtig noch etwa 15% (gemäss aktuellen Umfragen) halten lässt. Politikwissenschaftler Tõnis Saarts meint, es sei aktuell vom Schicksal der Zentrumspartei abhängig, ob Estland in Zukunft nur noch von zwei großen Parteiblöcken dominiert werde. Er sieht Gemeinsamkeiten zwischen dem russischsprachigen Elektorat und der Wählerschaft der EKRE: sie neigten stark zu konservativeren Werten, seien skeptisch gegenüber Europa und dem Westen, und bewunderten kompromisslose Führungsfiguren. (err)