Bei den "Geburtstagsfeiern" Ende März 2018 hatte alles noch ganz anders geklungen: "Nordica", die "Fluggesellschaft Estlands", zähle, Zitat, "zu den wettbewerbsfähigsten in der Region" (tip). Und damit nicht genug. Jaan Tamm, der Vorstandsvorsitzende von Nordica, wurde mit den Worten zitiert: "was Nordica ausmacht, sind die Menschen in Estland." Am 21. Juni 2019 gab "Nordica" nun per Pressemeldung bekannt, ab Ende Oktober alle Passagierflüge einstellen zu wollen.
Ja, wo sind sie denn geblieben, die "Menschen in Estland"? Vermutlich sind sie lieber mit "Ryanair", "Wizzair" und anderen Billigjets gefolgen, und haben sich nicht darum gekümmert, dass die eigene Regierung viel Geld dafür aufwendete, Flieger mit estnischer Flagge auf den Flughäfen der Welt erleben zu dürfen.
Nun wollten doch die Estinnen und Esten so gerne "nordisch" sein - bleiben sie nun "baltisch"? "AirBaltic", die lettische Schwester (bisher Konkurrentin), gegenwärtig zu 80% im Besitz des lettischen Staates, bietet sich schon mal als neue "Wahl des Herzens" an, und fliegt neuerdings mit einem estnisch lackierten Flieger durch Europa. Der Rest ist wahrscheinlich eine Frage der Presseschlagzeilen (also = Image). "AirBaltic will die Herzen der Esten erobern", titelt die "Flugrevue". Estnische Herzensfragen - eine reine Flaggenzeremonie? Vorsichtshalber wird schon mal der moralische Zeigefinger ausgefahren: 1000 Arbeitsstunden habe die Lackierung gekostet, betonen die Auftraggeber. Vielleicht haben die Ärbalten auch noch die Meldungen des Jahres 2016 im Kopf, als es hieß: "Estlands Nationalairline ärgert Air Baltic" (AeroTelegraf).
Auch damals gab es Schlagzeilen der Art "Baltische Airline ist pleite" (fvw) - gemeint war Estonian Airlines. Schon um Gleichlautendes jetzt zu verhindern, dafür hat sich vermutlich der Flugzeuganstrich schon gelohnt. Und in der sonst eher als zurückhaltend bekannten Schweizer Presse weht der Duft unritterlicher Feldzüge: "Air Baltic zeigt mit Lackierung Anspruch auf Estland" (nau.ch).
Wer will, kann auch Schlagzeilen mit negativerer Tönung lesen. "Nordica ist am Ende" (fvw),"Nordica gibt auf" (AustrianWings), oder, etwas geschickter formuliert: "Estonia’s flag carrier forced to change its business model" (rusaviainsider).
Was die "estnischen Herzen" angeht, so kann man auch bei Nordica-Finanzmanagerin Kristi Ojakäär nachlesen; sie wird zitiert wird mit der Aussage, mit den Billigpreisen habe man nicht mithalten können, und ganz besonders mache "Nordica" die lettische "AirBaltic" zu schaffen. "Wo die Liebe hinfällt", heißt es da wohl. Oder, anders gesagt: auch Ojakäär wurde erst Anfang 2019 neu eingestellt und hatte vorher Erfahrung im Glückspiel-Business (Casinos).
Jaan Tamm (der mit den "Menschen in Estland") ist inzwischen seines Postens enthoben und fand in Gunnar Kobin einen Nachfolger. Es gibt erste Stimmen aus der estnischen Politik, denen zufolge der estnische Staat nun lieber seine Anteile an "Nordica" loswerden will - das heißt dann in Pressesprech: gesucht wird ein "strategischer Investor".
Trotz Steigerung bei Einnahmen und Passagieren um 30% habe "Nordica" 2018 5,4 Millionen Euro Verluste gemacht, schreibt ERR. 765.000 Menschen seien im Jahr 2018 mit der Airline geflogen (wie viele Est/innen unter ihnen waren, wurde nicht bekannt). Dem stehen die Statistiken von AirBaltic entgegen: 210.000 Passagiere seien es auf den Strecken von und nach Estland in den ersten fünf Monaten 2019 gewesen (ERR / AirBaltic), eine Steigerung um 32%. Ab sofort werde "AirBaltic" zwei ihre Flieger des Typs Airbus A220-300 in Tallinn stationieren. Auf der Flugroute Riga-Tallinn sind gegenwärtig jede Woche etwa 7.000 Passagiere unterwegs.
Zumindest die Szene der "PlaneSpotter" (Menschen, die Fotos machen von möglichst vielen Flugmaschinen) reagiert erregt: der blau-schwarz-weiße Flieger wurde schon in Wien (AviationNetonline), in Olso (Planespotters) und auch in Berlin gesehen (Berlin-spotter). Es spottet also jeder Beschreibung - will sagen: die Werbewelle rollt.
Nun warten wir alle gespannt auf die Eröffnung der Schnellzug-Route "Rail-Baltica" nach Tallinn. Der erste Zug wird dann sicherlich in Nationalfarben auf die Reise geschickt werden - vielleicht in digitaler Form an der Außenhaut, so dass die Flaggen jeweils gewechselt werden können, wie es gerade zum Image passt.
Zeitungsartikel, die ich gelesen habe, schreiben, dass es nur noch drei Flugrouten geben wird, unter anderem die prestigeträchtige nach Brüssel, damit die Abgeordnete des Europäischen Parlaments direkt kutschiert werden, von Einstellung des Betriebs war keine Rede gewesen. Aber vielleicht ist das nur der übliche Nebel in die Augen der Bevölkerung.
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