Nein - keine Waldkapelle, und kein Örtchen für's dringende Bedürfnis - eher eine Mensch-Versteck-Station in Meister Petz' Revier |
"Haben Sie schon mal im Wald einen Bären getroffen?" fragte "VisitEstonia" schon 2010, und versprach gleichzeitig eine Wahrscheinlichkeit von über 90%. In diesem Fall ist dann meist ein Waldgebiet nordöstlichen Landkreis Ida Virumaa gemeint: Alutaguse. Zwischen Hochmoor und Sumpf sollen hier etwa 100 Bären leben - und dieses Angebot haben schon etliche Reiseveranstalter als Attraktion ins Programm genommen.
Nun wäre ein Ausflug mit Tierbeobachtung das eine - aber hier sollen die Gäste im Bärenrevier auch übernachten. Ein Quartier, was bei "VisitEstonia" noch "gemütlich und bequem" genannt wird, im Falle konkreten Interesses aber mit Vorsichtsmaßnahmen bedacht wird: keinen Lärm machen, keine stark riechenden Parfums benutzen, nicht nachts die Schutzhütte verlassen - so ist es auch in den zugänglichen Erfahrungsberichten nachlesbar.
Für alle, die sich daher erstmal langsam herantasten wollen, weist der "Looduskalender" auch auf andere tierische Sehenswürdigkeiten hin: Zwergschnepfen, Moorschneehühner, Bartkauz, Flughörnchen oder Wölfe - "Alutaguse von seiner ganz eigenen geheimnisvollen Aura umgeben", so die estnischen Naturschützer.
Leider enden die Angebote aber nicht bei der Tierfreundlichkeit. Als "einzigartiges Erlebnis" feiern auch die Jäger ihr privates Vergnügen - die Bärenjagd. Hier wird die Zahl der Bären in Estland auf 800 geschätzt, und behauptet "diese Zahl steige erheblich". Also Bärenschwemme in Estland? Jäger aus dem Ausland befreien die Estinnen und Esten von ihrer Not? Daran darf gezweifelt werden - eher wahrscheinlich ist auch hier eine vielversprechende und sichere Einnahmequelle für die Veranstalter. Vor allem im August, September und Oktober verschwinden also mindestens zweierlei Interessierte in den estnischen Wäldern: die einen mit Zooms und Speicherkarten, und auch die anderen machen Fotos: Beweisfotos vom Mensch als Ordner und Richter über Leben und Tod. Zählt man die auf den Seiten verschiedener Anbieter die Abschußstatistiken zusammen, so wurden 2007 in Estland 27 Bären erschossen, 2008 waren es 37, 2010 schon 65. Die Jagdveranstalter werben mit "flexiblen Preisen", "hoher Trophäenmöglichkeit" und "Extrapakete für Ihre Begleitung und Ihre Kinder, damit auch sie den Urlaub genießen" (Märchen von Meister Petz vorlesen, während Pappa im Wald ist?). An Verboten wird an dieser Stelle nur eines genannt: "Jagd mit Bogen und Armbrust".
Vielleicht ist die freie Natur in Estland einsam und menschenleer genug, dass Tierfreunde und Tierjäger sich nicht über den Weg laufen werden - allerdings sollte die estnische Tourismuswerbung vielleicht auch etwas sensibler mit dem Thema umgehen. Die im Internet einsehbaren "Dankesbriefe" der Jagdgäste sprechen bisher dafür, dass gewöhnlich eher Elche gejagd werden (was ja auch in Skandinavien eine weit verbreitete "Leidenschaft" ist). Estland hat schon manches Thema neu erfunden und erfolgreich zur Imagewerbung genutzt - wenn sich allerdings herausstellen sollte, dass lokale Veranstalter für die einen die süßen Bären fürs Fotoshooting herausputzen, um dann seine Gewohnheiten und Aufenthaltsorte so genau zu kennen, um die Tiere den nächsten Besuchern vor die Flinte treiben zu können, hätten die angeblichen Naturschätze Estlands in beiden Fällen eine große Gemeinsamkeit: sie wären lediglich Objekte zum Geldmachen geworden.
Alutaguse hat sich flexibel aufgestellt: auch ein "Abenteuerpark" wurde hier fertig gestellt, der vielseitige Angebote anderer Art bietet: Kletterstrecken im Wald, ein Sportzentrum mit Schwimmbad, Sauna und gesunder Ernährung - mit einer Vielzahl von Spielen und Unterhaltung. Typisch estnisch eben.