Montag, September 29, 2014

Spaß in den Ruinen

Offenbar gibts in Estland auch Freizeitspaß abseits der Reisekataloge. In dieser Saison - die ja auch einige sehr sonnige Tage hatte - scheint es einige neue Trends zu geben. Zum Beispiel Baden und Tauchen im Steinbruch: die alte Grube von Rummo scheint hier besonders attraktiv zu sein. 
Sogar die Touristikbüros werben schon mit dem
morbiden Charme dieser trendigen Badestelle - hier
ein Foto aus "Visit Harju"

Den Informationen zufolge, die zu diesem Ort zugänglich sind, arbeiteten hier früher Insassen des Gefängnisses von Murru - offenbar kein Grund, der heute jemand abschreckt oder zurückhält. Es gab auch Zeiten, da hier Straflager eingerichtet waren. Seit 1938 - im Krieg und in der gesamten Sowjetzeit - wurde hier Kalkstein abgebaut. 2004 musste die Anlage noch Beispiel für die "Los Angeles Times" herhalten, dass die Zustände in den Gefängnissen des neuen EU-Mitglieds Estland noch sehr verbesserungsbedürftig seien. Seit 2012 steht nun alles leer, die Immobilie sucht Käufer.

Die wahre Attraktion aber entstand offenbar, als die Entwässerung des Geländes gestoppt wurde. In raschem Tempo soll der Wasserstand angestiegen sein und es ist so etwas wie eine "blaue Lagune" entstanden. Selbst Maschinen sollen vom Wasser überströmt sein, so dass ein wahrer "Abenteurspielplatz" entstanden ist, nicht nur für Freizeitbadende, sondern auch für Taucher und Unterwasserfotografen. An sonnigen Tagen kennzeichnen nun skurille Kalksteingebilde neben azurblauem Wasser die Gegend. "A really cool place", wie Blogger Rannu und gibt zu: "ich hatte Fotos von anderen im Internet gesehen und bin gleich hingefahren." Der Reiseblog "When on earth" warnt: "Beachten Sie, Rummu ist ein nicht offiziell zugelassener Platz zum Schwimmen und Tauchen. Das bedeutet, er ist 24Std.zugänglich, aber obwohl der Besuch nichts kostet lohnt es sich wohl mindestens etwas Geld in ein Touristenhandbuch zu investieren, um den Besuch etwas sicherer und angenehmer zu machen." Ähnlich legt es auch die offizielle Tourismusseite "Visit Harju" nahe.

Wer immer noch glaubt, ein Besuch in Rummu wäre eine Art Geheimtipp, der braucht nur bei Fotoportalen wie "Flickr" das Stichwort "Rummu" eingeben und Hunderte von Fotos ansehen können von Menschen, die schon da waren. Ähnlich viele Filmchen sind bei Youtube eingestellt.Sogar ein "Architekturvideo" gibt es zu bestaunen.
Die Innenräume des verlassenen Gefängnistrakts hingegen mussten auch schon mal als Kulisse für ein Video der Synthpop-Band "Kasaky" herhalten.

Sonntag, September 14, 2014

Estland in der Cloud

Daß die Esten Netzverliebt sind, hat sich ja inzwischen im Ausland herumgesprochen. Viele verwechseln allerdings den gesetzlich garantierten Internetzugang mit einer staatlich bezahlten Leitung in die eigenen vier Wände, wo es in Wahrheit nur um die Bereitstellung öffentlicher Internetpunkte etwa in Bibliotheken geht. Nichtsdestotrotz ist die Affinität der Esten zur Technik hoch. Das Politikmagazin „Politikum“ von WDR5 übertrieb dieser Tage jedoch trotzdem ein wenig. Steuern, Schulnoten und Krankenakten stünden in Estland im Netz jedem zu Verfügung. Das stimmt so nicht ganz. Die Steueröffentlichkeit bezieht sich nicht auf Privatpersonen, sondern nur auf Amtsträger. Der Autor dieser Zeilen hat sich bezüglich Schulnoten und Krankenakten nicht gesondert schlau gemacht, geht aber davon aus, daß es sich wie an anderen Bildungsinstitutionen auch um Netze handelt, die tatsächlich über das Internet einsehbar sind, aber ebenso wie ein Mailaccount nur mit Paßwort, will sagen, es kann nicht jeder einfach mal nachschauen, wie der Nachbarsjunge so in Mathe steht. Im weiteren Wortlaut des Beitrages ist dann auch von Öffentlichkeit nicht mehr die Rede, sondern von einer Speicherung der Daten auf Servern. Der Beitrag stellt die Offenheit der Esten in Zusammenhang mit den verschiedenen Skandalen um Datenlecks und Bespitzelung bis hin zur NSA-Affäre, die eine kritische Haltung in Deutschland zu Folge hätte. Der neue junge Ministerpräsident Estlands, Taavi Rõivas, wird dann zu Wort gebeten und vergleicht die Sicherheit der Daten in der Cloud – sicherlich nicht zu Unrecht – mit jener der Krankenakte eines Michael Schumacher, die ja auch einfach mal so auf Papier aus dem Krankenhaus entwendet worden sei. Jeder Zugriff werde registriert, so der Ministerpräsident weiter, und unberechtigte hart bestraft. Der IT-Beauftragte der Regierung, Taavi Kotka, geht im Bericht noch weiter. Er fragt, wer mehr wisse über die Krankheit eines einzelnen, der behandelnde Arzt oder Google? Da jeder im Internet nach verschiedensten Informationen suche, wisse Google darüber wie manch andere Datenkrake, so die Wortwahl des Autors des Beitrags, meistens mehr, weil jeder erst einmal seine Symptome googele. Und damit fragt er rhetorisch, warum man Google mehr vertraue als der Regierung, die sich doch viel leichter kontrollieren lasse. Im Internet gäbe es sowieso keine Privatsphäre. Der Autor des Beitrages beruhigt später und sagt, in Estland seien allein 1.000 Angestellte nur mit der Cybersicherheit beschäftigt, und das Land plane, die Daten künftig auf Servern außerhalb Estlands zu speichern. Natürlich seien die Daten letztendlich nicht sicher, so der estnische Spezialist weiter, doch genauso setze man sich Risiken aus, wenn man auf die Straße geht. Auch zieht der Journalist den Vergleich zu Deutschland erneut. Angela Merkel wird eingespielt mit dem Satz, das Internet sei Neuland. Eine solche Behauptung, und da ist der Beitrag zuzustimmen, würde es in Estland wohl nicht geben.

Samstag, September 06, 2014

Mysteriöse Entführung eines Grenzers

Dieser Tage ist nahe der estnischen Grenzstation Luhamaa ein Mitarbeiter der Estnischen Schutzpolizei KAPO nach Rußland entführt worden. Das Opfer wurde zunächst mit einer Waffe bedroht, um dann eine Rauchbombe zu zünden, die den Einsatz weiteren Gerätes von estnischer Seite unmöglich machte. Einen solchen Vorfall, berichtet die estnische Tageszeitung Postimees, habe es in der jüngeren Geschichte in Estland nicht gegeben, auch wenn es auf beiden Seiten der Grenze in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten gekommen war. Ein Vorfall wie dieser erinnere jedoch an die zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als etwa 1938 auf dem Peipussee, der sich zu beiden Seiten der Grenze erstreckt, mehrere Zöllner ermordet wurden.

Einstweilen aber gebe es noch zu wenig konkrete Informationen, um endgültige Schlußfolgerungen ziehen zu können, sagte der Direktor der KAPO Arnold Sinisalu. Die Sicherheitsbehörde sehe in dem Vorfall einstweilen ein normales Verbrechen ohne politischen Hintergrund. Die Täter könnten einfach Kriminelle gewesen sein. Gleichzeitig verbreitete der russische Geheimdienst FSB nur wenige Stunden später, daß im Kreis Pihkva ein Beamter der estnischen Sicherheitspolizei namens Eston Kohver aufgegriffen worden sei. Sinisalu meint jedoch, daß die Behörde mit grenzüberschreitender Korruptionsbekämpfung beschäftigt sei und ein zwischenstaatliches gegenseitiges Ausspionieren daher unwahrscheinlich. Die Russen wiederum behaupten, sie hätten vom dem Aufgegriffenen eine Pistole mit Munition, 5.000 Euro und Papiere konfisziert, die auf eine Spionagetätigkeit hinwiesen. Estland nimmt den Fall trotzdem Ernst genug, den russischen Botschafter in Estland Juri Merzljakow einzubestellen, um Rußland bei der Aufklärung des Falles um Hilfe zu bitten. Gleichzeitig erklärten Präsident Toomas Hendrik Ilves und Ministerpräsident Taavi Rõivas die Heimkehr von Eston Kohver für das wichtigste Ziel. Die Zeitung betont noch einmal, daß die KAPO angesichts von Zeugenaussagen, die nur den Grenzübertritt von Personen nach Estland, die beschriebenen Ereignisse und die Rückkehr der Betroffenen nach Rußland, aber keinen Waffengebrauch beobachtet haben wollen, es für falsch hält, den Vorfall in irgendeinem Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine oder dem NATO-Summit jüngst in Wales sehen wollen.

In der Presse wird über die Hintergründe der Entführung spekuliert. Das Nachrichtenportal Delfi.ee hält die Möglichkeit bereit, der Grenzschutz sei über eine illegale Grenzübertretungen, Schmuggel und Menschenhandel informiert worden. Aus Rußland kommt die Vermutung, es handele sich für einen solchen Fall um Bestechung. Darum habe Kohver auch das Geld bei sich gehabt. Aus dem an Rußland grenzenden Kreis Ida-Virumaa stammend, spreche er hervorragend russisch und kenne die Mentalität gut. Er arbeitet nach Agaben der KAPO bereits seit den 90er Jahren an der Grenze. Nach Meinung von Innenminister Hanno Pihvker könnte der russische Grenzschutz bei seinen Kontrollen auch nur durch Zufall auf den Beamten getroffen sein. Kohver sei von den Kollegen zu weit entfernt gewesen, als diese etwas hätten unternehmen können. So wurde die Rauchbombe verwendet, um kurzfristig die Sicht einzuschränken und den estnischen Grenzer nach Rußland über die Grenze zu bringen und dem FSB zu überführen. Die russische Seite wiederum behauptet, aus Estland habe es unter Geschäftsleuten in Rußland Versuche einer Anwerbung gegeben, um technisches Gerät illegal über die Grenze zu schaffen. Das Hauptquartier des FSB in Pskov hinter der Grenze sei von einem Maskierten mit einer Kamera ausspioniert worden. Den Spekulationen zu Folge könnte sich die estnische Regierung täuschen mit ihrer Hoffnung auf eine baldige Heimkehr Kohvers. Ebenso gut sei es möglich, daß die Russen einen Signalprozeß organisieren.

Regierungsbildung aktualisiert

Estland hat seit diesem Frühjahr eine neue Regierung, darüber wurde bereits berichtet. Taavi Rõivas heißt der neue Ministerpräsident, der mit nur 34 Jahren nun der jüngste in Europa ist. Hintergrund für den Wechsel im Amt war der Rücktritt des langjährigen Amtsinhabers Andrus Ansip, der amtsmüde und vom Volke inzwischen nicht mehr goutiert, seiner Partei bessere Startchancen bei den Wahlen im Frühjahr 2015 und sich einen Job in Brüssel sichern wollte. Vorgesehen war eine Rochade. Er wechselt nach Brüssel, und Ex-Ministerpräsident Siim Kallas kommt nach zehn Jahren als EU-Kommissar auf seinen alten Posten zurück. Doch dagegen rebellierte die Partei. Als ihm dann noch Unregelmäßigkeiten während seiner Zeit als Chef der Notenbank vorgehalten wurde, floh er vor dem Kreuzfeuer der Kritik und warf als potentieller Regierungschef das Handtuch. Plötzlich stand seine liberale Reformpartei ohne Nachfolger da. Der auch international bekannte Außenminister Urmas Paet winkte ab, und die Partei mußte Ausschau halten nach jemand anderem. In die engere Wahl gezogen wurden der 47jährige Hannu Pevkur und eben Rõivas, Justiz- und Sozialminister im amtierenden Kabinett. Rõivas’ Wahl war schließlich eine Überraschung, obwohl der Mann eine steile Karriere hinter sich hatte. Mit 19 bereits war er Berater des Justizministers als Student der Wirtschaft der Universität Tartu gerade einmal im zweiten Studienjahr. Kurze Zeit später wurde er bereits Berater bei Ministerpräsident Ansip, dem er, so erinnern sich Kollegen, als einer der wenigen zu widersprechen wagte. Ansip sei generell eher beratungsresistent gewesen. Nachdem er vorher noch kurz Bezirksbürgermeister von Haabersti in der Hauptstadt Tallinn gewesen war, wurde er 2012 Minister. Diese Personalie blieb jedoch nicht die einzige Überraschung. Bei den vorausgegangenen Kommunalwahlen hatte die regierungsführende Reformpartei hinter ihrem konservativen Koalitionspartner Vaterland zurückgelegen. Das gab genügend Unstimmigkeiten, daß Rõivas bei der Regierungsbildung auch mit den oppositionellen Sozialdemokraten verhandelte – mit Erfolg. So kam es zur ersten liberal-sozialen Koalition in Estland, der freilich nur noch elf Monate bis zur Parlamentswahl bleiben. Die neue Regierung hat sich viel vorgenommen oder versprochen. Das Kindergeld wie auch die Gehälter der Lehrer sollten deutlich angehoben werden bei gleichzeitiger Haushaltsdisziplin. Der im Amt verbliebene langjährige Finanzminister Jürgen Ligi hatte sich zuvor immer geben derartige Mehrausgaben gesperrt und gilt als Sparmeister der Nation. Freilich bleibt abzuwarten, welche Versprechen realisiert werden. Erst einmal korrigierte das Finanzministerium die Erwartungen in das Wachstum des BIP von 3,6% auf nurmehr zwei.