Mittwoch, Mai 08, 2013

Keine Damen in Paris

Laine Mägi, in Estland
schon seit den 1980er
Jahren vor allem als
Theaterschauspielerin
bekannt. Oder dadurch,
dass sie einmal mit
Musiker Tõnis Mägi
verheiratet war und mit
ihm eine gemeinsame
Tochter hat
Ja, vielleicht musste es so kommen? Wenn drei Länder einen Film zusammen produzieren ist das Resultat eben für andere Länder nicht geeignet. Das muss sich zumindest der Arsenal-Filmverleih vorwerfen lassen, der für die deutsch synchronisierte Fassung von Ilmar Raag's "Eestlanna Pariisis" („Une Estonienne á Paris") den ziemlich irreführenden Titel "Eine Dame in Paris" erfand. Kinogänger in Deutschland, geleitet nur durch oberflächliche Kinokritiken, könnte dieser Titel dazu verleiten anzunehmen, der international weniger bekannte Ilmar Raag ("Klass") habe durch unverdientes Glück nur die gealterte Jeanne Moreau abfilmen wollen. Jeanne Moreau - eine Dame in Paris?
Jeanne Moreau - diesmal als
mürrische Alte mit
estnischen Wurzeln
Diesem Mißverständnis folgen offenbar eine ganze Reihe deutscher Filmkritiken, wie Gerhard Midding in "DIE WELT", Birgit Roschy in DIE ZEIT, oder Christiane Peitz für den NDR. Wer den Film aber gesehen hat - ein wenig Estland-Kenntnis hilft dabei - wird zu dem Schluß kommen: die versprochenen Damen in Paris gibt es in diesem Film nicht. Aber wer eine Spur interkulturelles Verständnis aus verschiedenen Ländern mibringt, wer jemals allein in einem fremden Land Arbeit suchte, wer französische und estnische Mentalitäten und Charakteristika kennt, der wird Freude und Glück in diesem Film empfinden - durch das was zu Sehen und zu Hören geboten wird.

Da zitiere ich doch lieber "Giustino" aus seinem Blog "Itching for Eestimaa": "Da war etwas in dem Film, das mir die Tränen in die Augen trieb. Ich weiß nicht genau warum. Vielleicht war es der betrunkene Ex-Ehemann, die brave Großmutter mit ihrer Demenz, das stille Begräbnis mit einem Schuß Vodka, die unrenovierte Wohnung mit den Möbeln aus der Sowjetzeit, die gestylten, egozentrischen Kids die keine Zeit für eine Beerdigung haben weil sie so viel arbeiten, ganz zu schweigen von der Dunkelheit und dem Schnee. Das rührte mich zu Tränen - vielleicht, weil es so gut beobachtet ist."
Ja, genau - auch ich war überrascht dass der Film fast 30Minuten Leben in Estland zeigt - obwohl Verleih und Medien ihn offenbar gern auf das verkürzen wollen, was Deutsche so von Frankreich, Paris und französischen Schauspielerinnen zu kennen glauben. Das gibt jedem Zuschauer die Chance, sich einzufinden in estnische Befindlichkeiten: zart, zurückhaltend, leise, wortkarg - wie Estinnen und Esten eben so sind.
In der deutschen Kritik wird es dann einem "schwachen Drehbuch" angekreidet, teilweise auch dem Regisseur, dessen erster Film "Klass" ja viele Szenen bot die Stoff für den Klatsch unter Facebook-Freunden sein können.

Das Estland-Missverständnis
Vielleicht steht die bisherige deutsche Rezeption des Films auch für eine Reihe heutiger, ganz typischer Missverständisse im europäischen Zusammenleben. Ein Film aus Estland, na und? In diesem Film spielt niemand mit dem Handy herum, geht drahtlos ins Internet, fährt als Einwohner Tallinns kostenlos Bus, oder fabuliert vom angeblichen "Baltikum". Vielleicht sollte man zweimal hinschauen (wer im genauen Hinschauen nicht so geübt ist)?

...aber sehr wohl Estinnen und
Französinnen in Europa?
Und, ein zweiter Tipp: unbedingt diesen Film im Kino ansehen! Nur so lassen sich die hervorragenden Kameraeinstellungen, die fein justierte Ausleuchtung vieler Szenen, die hervorragende Filmmusik ("Dez Mona" - über die außer im Abspann leider nirgendwo Infos zu bekommen sind) und sogar die für jede Stimmungslage anders hergerichteten Frisuren, Kleidungsstücke, Gesten und Blicke richtig genießen.
Ein weiteres Mißverständnis: vergessen Sie Jeanne Moreau, entdecken Sie Laine Mägi! Wer von Beginn des Films an auf Jeanne Moreau wartet, der macht sowieso etwas entscheidendes falsch, und Moreau läuft erst dann zu Höchstform auf, als Mägi (als Anne) ihr als Charakter ebenbürtig entgegentritt und sie einen adäquaten Gegenpart bekommt.

Also - um bei den deutschen Filmkritiken zu bleiben - da ist Carsten Beyer vom "Kulturradio" schon eher zuzustimmen, der den Film "wegen den Hauptdarstellern sehenswert" findet. Allerdings unterschlägt auch er, dass sich der Zuschauer schon ein wenig mit Estland befassen sollte, und nicht nur damit, wieviele Männer die Filmfigur "Frida" (Jeanne Moreau) nun eigentlich hatte. Es geht hier um das Zusammentreffen zweier Kulturen, und auch mehrerer Generationen: nur zu gern würde ich Näheres darüber lesen, wie Estinnen und Esten in Estland die dargestellte "Ex-Exil-Estnische Gemeinde" in Paris sehen, so wie sie Ilmar Raag auftreten lässt. Kurze Szenen nur, die aber Folgen für Generationen haben: zerstritten und missgünstig, ewig gleiche Diskussionen in einzelnen Sätzen eingefroren und wie Tropäen ausgesprochen vor sich hertragend, wortkarge Menschen, die sich gegenseitig selbst die wenigen Worte noch verbieten wollen. Bissig oder ironisch? Schade, dass nicht jeder Deutsche zusammen mit einem/einer Esten/Estin ins Kino gehen kann - immerhin besteht die Chance, erst nach Estland zu fahren und dann sich den Film anzusehen. Oder: mit weniger vorgefertigten Schablonen den Film anschauen und sich auf das durchaus vorhandene typisch estnische konzentrieren (Jeanne Moreau kommt dann von selbst und ist natürlich unverzichtbar!).
Hier noch ein Lob an die deutsche Synchronisierung: die deutsch eingesprochenen Szenen der im Film in Frankreich lebenden Esten sind ziemlich gut getroffen, und diesmal glücklicherweise nicht mit "irgendwelchen radebrechenden Osteuropäern" besetzt worden.

Sehnsucht nach Frankreich - und nach sich selbst
Vielleicht kann man Ilmar Raag, der ja auch das Drehbuch schrieb, doch an einigen Stellen kritisieren - vor allem für den Schluß. Es wirkt etwas unentschlossen sowohl zwischen den Figuren schwebend wie in Bezug auf die vorher so betonten verschiedenen Gefühlswelten, wenn am Schluß Fridas junger Liebhaber Anne leicht über die Backe streichelt, und Frida energisch Anna bedeutet: "Du bist doch hier zu Hause!"

Die tatsächlich in Estland auch historisch verankerten Frankreich-Bezüge Estlands kann ein europäischer Kinobesucher hier ja nicht ahnen: man muss nämlich gar nicht die angeblich so vorherrschenden Sowjet-Sehnsüchte nach "freiem Reisen" hervorkramen, um Frankreich-Sehnsüchte in Estland zu begründen; manch wohlmeinender Deutscher wird hier vielleicht auch "Ossi-Gaby und ihre Banane" vor Augen haben, also vermeintlich eher ahnungslose Illusionen. Nein, Estland hatte, ähnlich wie die Nachbarländer Finnland oder Lettland, schon zur Jahrhundertwende 1900 oder in der Zwischenkriegszeit ein derart reges Kulturleben, das sich von Paris anregen und verzaubern ließ. Auch Französisch als "Sprache der Kultur" (gegenüber Englisch als Sprache des Business, Russisch und Deutsch als Sprache der übermächtigen Großmächte) trägt das seinige dazu bei. Im Film wird das nur kurz angerissen - im Drehbuch gibt es keine Figuren aus dieser Zeit, etwa Annes oder Fridas Vorfahren. Aber immerhin können Estland-Kenner sich auch an diesen Details erfreuen, die stimmig eingebaut werden und auch ein Teil des Beziehungsgeflechts bilden, warum Esten sich mit Frankreich auseinandersetzen - ganz abgesehen von der Qualität der Croissants.

Am Schluß bliebt festzustellen: ich möchte gerne den Film nochmal sehen, und zwar in französicher Fassung. Denn auch mein Urteil ist natürlich subjektiv, geprägt von deutscher und estnischer Erfahrung. Ein Blick von Frankreich aus auf Estland wäre neu.
Ilmar Raags Film entzaubert beide "Damen" gleichermaßen: die zurückhaltende Estin muss erkennen, dass Sehnsucht nach Harmonie, moralisch geprägten Partnerbeziehungen und nachgeholten Jugendträumen nicht das einzig mögliche Lebensmodell ist. Genauso wichtig aber, dass auch die Französin mit estnischen Wurzeln hier nicht als "Besserwisserin" auftreten kann, je länger der Film dauert. Ob ihre lange als "freie Lebensart" empfundenen dunstigen Beziehungen zu verschiedenen Männern wirklich dauerhaft und wichtig sind, wird sie neu entscheiden müssen - auch in ihrem hohen Alter. Vielleicht ist also am Ende wichtiger, dass Frida in Anne eine ziemlich ebenbürtige Freundin gefunden hat - egal was der einzig verbliebene, und scheinbar ziemlich überforderte Mann (Patrik Pineau) dann noch zu tun gedenkt (ganz so wie es auch der TAGESSPIEGEL schreibt).
Also, Endversion 1: Anne mit Koffer vor dem riesigen Eiffelturm (ein paar Minuten wegschneiden also).
Version 2: Anne begleitet Frida nach Estland, das Flugzeug über den Lichtern Tallinns. Ende.
Version 3: Anne und Frida gehen zusammen einfach mal in ein anderes Café. Und reden, und reden ....

Die schönsten und berührendsten Momente im Film, in dem nun wirklich eher zwei Estinnen als zwei Damen präsentiert werden, sind für mich immer dann, wenn ein Mensch innehält, eine Tür leise geschlossen wird, ein Mensch geht hinaus und der andere bleibt zurück. Ein Plädoyer vielleicht dafür, auch im eigenen Leben mal ein wenig innezuhalten und genauer hinzusehen. Oder die lärmenden Geräusche von draußen einfach mal abzuschalten - und Momente der Einsamkeit nicht als Verlassenwerden zu begreifen, sondern als Chance: entweder bleiben und beharren, oder ändern und Wagnis - beides ist möglich, beides ist gleichviel wert. Zwei, drei Sekunden des Sich-Bewußtwerdens über diese Momente nur, das reicht. Und - sicherheitshalber für diejenigen hinzugefügt, die glauben alle Esten suchten einfach eine Chance im "Westen" zu bleiben: Estinnen sind beharrlich. Nicht nur weil sie an der Wohnungstür sich gewöhnlich die Schuhe ausziehen. Wer's nicht glaubt, wird einen Film mit Damen wie Jeanne Moreau in Estland machen müssen.

Infoseite zum Film des französischen Co-Produzenten "TS Productions"
UniFrance Films / Filminfos bei AMRION, dem estnischen Co-Producer /
Infos bei "Filmstarts.de" / Webseite zur deutschen Fassung / ARSENAL-Filmverleih /
Infos zur Schauspielerin Läine Mägi /

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