Es liest sich zunächst harmlos: 3,5% der Bevölkerung Estlands lebt in Armut. Statistiken, die auch europaweit erhoben werden, fassen allerdings die zweite Kategorie mit dieser Zahl zusammen: insgesamt 22,5% leben in Estland "mit Armutsrisiko" (stat.ee). Ein Viertel der Bevölkerung Estlands hat also kein finanziell abgesichertes Leben. Im (statistischen) Durchschnitt aller Länder der Europäischen Union liegt dieser Prozentsatz (Arme plus Gefährdete) bei 21,6% - alle drei baltischen Staaten liegen darüber (Litauen 24,6%, Lettland 26%). Aber auch Deutschland liegt mit 20,9% nur knapp besser. Am unteren Ende der Scala liegen, vielleicht erstaunlicherweise, Tschechien (11,8%), Slowenien (13,3%) und Polen (15,9%).
Es lohnt sich genauer hinzuschauen. Vom "Armutsrisiko" betroffen sind vor allem zwei Altersgruppen in Estland: Erstens, wer allein lebt. Und zweitens, wer allein lebt und alt ist. Bei den Menschen älter als 65 Jahren liegt das Armutsrisiko inzwischen bei 79,1%! Bei Ein-Personen-Haushalten sind 51,9% gefährdet (stat.ee)"303,900 Menschen in Estland lebten 2022 mit einem Armutsrisiko", sagt Epp Remmelg, Chefanalytiker bei 'Statistics Estonia'. "Das bedeutet, ihr Einkommen pro Haushalt war geringer als 856 Euro. Und auch bei Familien mit Kindern, insbesondere solche mit drei oder mehr Kindern, ist das Armutsrisiko gegenüber 2021 am meisten gestiegen."
Auch die Alltagsrealität der 48.000 Menschen in Estland, die 2022 in absoluter Armut lebten, versucht das Statistikamt in Zahlen zu fassen: hier betrage das Einkommen pro Haushalt nicht mehr als 303 Euro.
"Wir müssen aber die Regionen unterscheiden," meint Ellu Saar, Professorin für Sozalwissenschaften an der Universität Tallinn. "In Süd-Ost oder Ost-Estland ist das Armutsrisiko fast doppelt so hoch wie in Tallinn. Bisher hat das estnische soziale Sicherungssystem nicht genug getan, um zur Linderung der Armut im Land beizutragen." (err)