Der Streit um die Prioritäten in der estnischen Energiepolitik scheint noch nicht ganz ausgestanden - denn nicht alle Kennzahlen der Wirtschaft entwickeln sich derzeit positiv. Um 2% sank die Industrieproduktion in Estland im Jahr 2019 gegenüber dem Vorjahr. Weniger Holz, weniger Metalle und auch weniger Elektrotechnik; nicht unwichtig, denn 67% der estnischen Industrieproduktion gehen in den Export. (Estonian Statistics)
Zumindest die estnischen Ökonomen befürchten nun, steigende Energiekosten würden dazu führen, dass billige Energiezufuhr aus Russland den Markt fluten könnte. Angesichts der Sorgen um das Weltklima haben die Länder der Europäischen Union den „Green Deal“ angekündigt, mit einer angestrebten Klimaneutralität bis zum Jahr 2050. 1000 Mrd. EUR sollen in den nächsten zehn Jahren für klimaneutrale Investitionen ausgegeben werden. Das neue Stichwort, auch für Estland, ist der "Just-Transition-Fund", der finanzielle Hilfe für diejenigen Regionen der EU bereitstellen soll, die bisher von Kohle oder Ölschiefer abhängig sind (euraktiv). Allerdings zweifelt das estnische Finanzministerium die Kalkulationsmethoden zur Höhe der für Estland nötigen Umstiegshilfen an (err). Bisher sind 125 Millionen Euro für diesen Zweck vorgesehen - verglichen mit den zwei Milliarden Euro, die allein Polen bekommen wird, scheinbar wenig. Befürworter weisen darauf hin, dass dies immerhin einen Betrag von 95€ pro Einwohner*in Estlands bedeutet. Auch eine interessante Zahl, denn in der Berechnung der CO2-Emissionen pro Einwohner*in liegt Estland EU-weit mit an der Spitze.
Vielleicht doch ein wenig mehr Klima- schutz, Herr Ministerpräsident? |
3 Terrawattstunden Strom pro Jahr exportierte Russland in den Jahren 2013-17 Richtung baltische Staaten; 2018 stieg dieser Wert dann auf 5,5 TWSt., 2019 sogar auf 7,8 TWSt., so berichten estnische Medien (err).
Ölschiefer, das rotbraune Sedimentgestein, präziser gesagt, der Anteil "Kukersit" darin, prägt schon seit mehr als 100 Jahren die Industrieentwicklung im Nordosten Estlands. Es ist wegen seines hohen Ölgehalts - bis zu 46%, in Estland bis 30% - brennbar. Die erste Anlage zur Gewinnung von Öl aus Kukersit wurde 1924 in Kohtla-Järve in Betrieb genommen.
Aber dass der Ölschiefer-Abbau auch große Umweltprobleme hervorruft, das war schon für die estnischen Unabhängigkeitsbewegung Ende der 1980iger Jahre ein Thema. Etwa die Hälfte des Ölschiefers bleibt nach der Verbrennung in Form giftiger Schlacken- und Aschenberge übrig.
Heute sind es ebenfalls EU-Förderprogramme, die auch die journalistische Weiterbildung zum Thema "Klimaschutz" unterstützen. Estnische Umweltinitiativen, die zu verstärkten Anstrengungen zu diesem Thema aufrufen, konnten 2019 allerdings nur ganze 3000 Unterschriften sammeln, um diese dann Regierungschef Jüri Ratas zu übergeben (euki).
Die Umsetzung der EU-Zukunftsziele im Bereich Energie wird dann in Händen einer Estin liegen: Estlands Ex-Energieministerin Kadri Simson. Vorerst bemüht sich Simson, Sorgen gegenüber steigenden CO2-Abgaben und Billig-Importen aus Russland und Weißrussland zu zertreuen. Ihre Einschätzung: "Energieimporte aus Russland stammen zu 75% aus Atomkraft, und 25% von mit Kohle betriebenen Kraftwerken", sagte sie der estnischen Agentur ERR. "Ein Teil davon erreicht unsere Region über Finnland, oder auch über Litauen."
Noch vor wenigen Monaten hatte Simson behauptet, auch neue Ölschiefer-Anlagen seien aus der Sicht der EU akzeptabel (ERR). Noch vor wenigen Jahren hatte die estnische Regierung der Ölschiefernutzung erhebliche Steuererleichterungen gewährt.
Da wird noch viel gearbeitet werden müssen, um Details der zukünftigen Entwicklung der bisher von den großen Abraumhalden geprägten Region um Kohtla-Järve und den bisher 6400 Arbeiter*innen in der Ölschiefernutzung realistisch zu gestalten.