Freitag, Januar 12, 2018

Präsidentialer Umzug, zeitweilig

Die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid machte um die Jahreswende herum innenpolitische Schlagzeilen: "Präsidentin zieht nach Narva" klang zunächst unglaublich, da es auch zuerst in russischsprachigen Programmen verbreitet wurde. Erstaunlicherweise beziehen sich diese Pläne auf ein Kulturprojekt aus dem Theaterbereich.

Seit den sowjetischen Zeiten musste in Estland immerhin kein einziges Theater geschlossen werden. 2017 hatte Estland 10 traditionelle Theater und etwa 50 unabhängige Theaterprojekte aufzuweisen. Die estnische Theaterwissenschaftlerin Madli Pesti bezeichnet das Theater sogar als die in Estland populärste Kunstform - einer der Gründe für die guten Überlebenschancen der vielen Theatergruppen. Und bei nur 1,3 Millionen Einwohnern sind ja auch 200 Theaterpremieren pro Jahr wirklich viel. Die Stiftung "Vaba Lava" wurde 2010 gegründet, und soll sowohl Räumlichkeiten zur Verfügung stellen wie auch Unterstützung geben für unkonventionelle Projekte und Experimente. "Vaba Lava" eröffnete in Tallinn 2014 und hatte bereits im ersten Jahr 60.000 Besucher.

Nun steht für 2018 die Eröffnung des "Vaba Lava Nr.2" an - eben in Estlands drittgrößter Stadt Narva. Hier, wo die Mehrzahl der Bewohnerinnen und Bewohner russischsprachig ist, wird dem Projekt nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine wirtschaftliche, soziale und integrative Funktion zugeschrieben. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen dem estnischen Kulturministerium und privaten Investoren. Grundlage sind dabei festgeschriebene, günstige Mietkosten für die Räumlichkeiten. Die estnische Kulturförderung ist aufgebaut auf der Kulturstiftung "Eesti Kultuurkapital", die bereits seit 1994 finanziert wird durch Einnahmen aus 3% der Mehrwertsteuer auf Alkohol und Tabak und 46% aus der estnischen Steuer auf Glücksspiel, dazu noch andere Zuwendungen zugunsten der Kulturstiftung.

"Vabalava" Tallinn
"Vaba Lava" ("Open Space" / "Freie Bühne") in Tallinn wird getragen von  9 unabhängigen Theatern und Tanzgruppen, sowie von mehr als 30 Firmen. "Vaba Lava" unterhält keine stationäre Theatertruppe, nur ein alle zwei Jahre wechselndes Team von Kuratorinnen und Kuratoren - in den Jahren 2015-16 war auch Thomas Frank aus Leipzig in dieser Funktion tätig. Der Focus liegt ganz auf die Etablierung internationaler Kooperationen, die Projekte werden größtenteils finanziert von der Estnischen Kulturstiftung. Diese ausgewählten Projekte machen dann etwa die Hälfte des Festivalprogramms aus, die andere Hälfte bilden andere Veranstaltungen, Konzerte, Ausstellungen, Kinofilme. Bei den Investitionen vor Ort wurde "Telliskivi Maja" als Sponsor gewonnen, die das "Telliskivi Creative City" Veranstaltungszentrum betreiben, eine ehemalige Maschinenfabrik.

Der Ort, wo "Vabalava 2" in Narva entsteht, sind Gebäude auf dem Gelände der ehemaligen Sowjetfirma "Baltijets", die in den Jahren 1947-1993 existierte (davor wurden am selben Orte Farben hergestellt). "Baltijets" beschäftigte sich mit der Herstellung von Metallen der seltenen Erden und gehörte zum militärischen Komplex der Sowjetunion.Im November 2018 soll "Vabalava 2" dann eröffnet werden. Das fertige Gebäude soll drei Ebenen haben und insgesamt 2600 m2 umfassen. Neben einem Theater mit 220 Sitzplätzen werden auch ein Fernseh- und Radiostudio, das örtliche Kindertheater, und Galerie und Café untergebracht werden. Auch mit Partnern im nur 150km entfernten St.Petersburg soll eine Zusammenarbeit angestrebt werden.

"Offene Bühne Narva" wird also die Adresse der Präsidentschaftskanzlei im Herbst 2018 sein, einen Monat lang. “Mein Vater und mein Halbbruder wuchsen in Narva auf, und ich habe nie spannendere Stadtrundgänge erlebt als die mit meinem Vater dort", wird die Präsidentin im russischsprachigen ETV+ zitiert. Gegenwärtig leben etwa 57.000 Menschen in Narva, für fast 90% davon ist die Muttersprache Russisch.

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