Montag, Mai 09, 2011

Intolerantes Estland?

Daß die postsozialistische Staatenwelt gegenüber in jeder Form andersartigen Menschen nicht besonders tolerant sind, ist nichts Neues. Über die Homosexuellen-Paraden und die damit verbundenen Schwierigkeiten wurde viel berichtet. Menschen anderer Hautfarbe betreffend besteht das Problem bereits darin, daß es kaum solche Menschen gibt in den baltischen Ländern. Immer wieder gibt es einige Vorzeigeausnahmen, die der Landessprache mächtig irgendwie im Showgeschäft Fuß fassen.

Nun gibt es eine Studie der OECD, die Estland erneut diesen Vorwurf macht. Dies muß erstens vor dem Hintergrund gesehen werden, daß es auch in anderen Ländern heftige Integrations- und Leitkulturdebatten gibt und die sogenannten Zigeuner eigentlich in keinem europäischen Land willkommen sind. Zweitens wird dieser Bericht im Jahre eins der Mitgliedschaft Estlands im Club der entwickelten Staaten publiziert.

Die OECD kommt nun zu dem Ergebnis, daß Estland unter den OECD-Staaten nicht nur mit Abstand die intoleranteste Gesellschaft sei, in der nur 26% der Befragten keine Probleme mit Fremden hätte, sondern sich diese Abneigung in den vergangenen Jahren noch verstärkt habe.

Der estnische Menschrechtsexperte Karl Käsper weist darauf hin, daß statistisch deutlich erkennbar ein Zusammenhang zwischen Toleranz und Lebensstandard bestünde. Je toleranter eine Gesellschaft ist, desto besser seinen die Indexe. In Estland konstatiert er, daß dieses Problem von offizieller Seite ignoriert werde. Daß es im Gegenteil zu anderen europäischen Staaten keine xenophobische Partei gebe, erklärt er damit, daß hinreichend viele Politiker der etablierten Parteien nicht anders dächten und dies auch öffentlich zum Ausdruck brächten.

Ein von der Zeitung Postimees befragter 28jähriger Portugiese, der in Estland seit sieben Jahren lebe, kommentiert, die Esten seien nicht intolerant, sondern vorsichtig. In der Geschichte habe das Volk Unterdrückung, Okkupation und Ausnutzung erfahren und sei deshalb Fremden gegenüber aus historischer Erfahrung zurückhaltend. Er habe in seinen Jahren in Estland keine Diskriminierung oder Gewalt erfahren. Natürlich gebe es einzelne Ereignisse, die den Rückschluß zulassen, daß jemand etwas gegen eine andere Hautfarbe oder fremde Gewohnheiten gehabt habe. Solche Menschen aber gibt es nach Meinung des Portugiesen in jedem Land.

Karl Käsper weist darauf hin, daß die Flüchtlinge aus Estland während des Zweiten Weltkriegs auch irgendwo in der Fremde angekommen seien und dort trotzdem aufgenommen wurden.

16 Kommentare:

  1. Aber, aber: "Zigeuner". Wie ich vor kurzem gelernt habe ist der offizielle Ausdruck momentan MEMs = Mobile ethnical Minority ;-)

    AntwortenLöschen
  2. Wie intolerant -- nach gefühlten tausend Jahren Fremdherrschaft endlich mal eine souveräne Nation sein zu wollen, anstatt nach den Demütigungen, zuletzt in der Sowjetzeit, einen Knicks zu machen und Dankeschön zu sagen.

    AntwortenLöschen
  3. Ich kann dem zitierten Portugiesen nur zustimmen, ich hab ein Jahr in Estland studiert und ein Praktikum absolviert.
    Klar Esten sind zurückhaltend und vielleicht skeptisch Fremden gegenüber. Offene Ablehnung hab ich dagegen nie erlebt, im Gegenteil, die meisten sind sehr interessiert und gastfreundlich. Fremdenfeindlichkeit ist sicher aus Sowjeterfahrungen gegen Russen und andere "Besatzer" vorhanden.

    AntwortenLöschen
  4. Kommentar von Eva = q.e.d. (was zu beweisen war)

    AntwortenLöschen
  5. @Eestiche: Tut mir leid, dass sehe ich etwas anders. Wahrscheinlich habe ich dann zwei Jahre in einem komplett anderen Land gelebt und gearbeitet. Ich kann die Ergebnisse der Untersuchungen gut nachvollziehen, sie decken sich weitgehend mit den eigenen Beobachtungen. Ich kenne sogar "hellhäutige" deutsche Mitarbeiter der Universität Tartu, die durchaus Probleme mit der örtlichen Neo-Nazi Jugendszene in Tartu bekamen. Das Problem sehe ich grundsätzlich aber weniger in der Xenofobie einzelnen gegenüber als in der grundsätzlichen Ablehnung alles Fremden in der estnischen Gesellschaft. Das schafft eine beklemmende Atmosphäre gewollter ethnischer Homogenität, die ein wenig an die spießbürgrerliche Zeit in Deutschland in den 50er Jahren und vor dem gesellschaftlichen Wandel im Zuge der 68er Bewegung in Westdeutschland /Westeuropa bzw. der friedlichen Revolution in Ostdeutschland 1989 erinnert. Beides löste einen gesellschaftlichen Wandel aus, der in der estnischen Gesellschaft bis heute nicht stattgefunden hat. Statt dessen gibt es eine abgeschottete Gesellschaft mit einem Selbstbildnis, bei dem die eigene Rolle häufig verklärt wird (Stichwort estnische SS Legionäre als Freiheitskämpfer) bzw. mit bombastischen Denkmälern zelebriert wird, die nicht von ungefähr an unsehlige Zeiten erinnern. Jeder der sich als Deutscher von Esten schon einmal vorschwärmen lassen musste, wie ordentlich sauber und diszipliniert die Besatzungssoldaten von Wehrmacht und SS im Gegensatz zu den "primitiven und dummen" Russen gewesen seien, weiß denke ich genau wovon ich rede.
    Auf die unseligen Äußerungen von Spitzenpolitikern wie Thomaa Ilves hat ja Kloty an anderer Stelle bereits hingewiesen. Dessen u.a. den Holocaust verharmlosende Äußerungen haben damals in Israel für viel Aufsehen gesorgt.

    Als Ostdeutscher komme ich nun auch nicht aus einer Gesellschaft, die in der Vergangenheit immer angemessenen Respekt gegenüber Ausländern und anderen Kulturen gezeigt hat. Gerade Geschehnisse wie in Rostock-Lichtenhagen und die sogenannten "national befreiten Zonen" neuer Nazis Anfang der 90er Jahre im Osten empfinde ich ebenso wie viele meiner Landsleute als eine Schande. Allerdings sehe ich auch den breiten zivilgesellschaftlichen Widerstand, der inzwischen solchen Tendenzen in Ostdeutschland entgegenschlägt. Das Engegement z.b. vieler Bürger der Stadt Dresden ist dafür nur ein Beispiel. Auch im ländichen Mecklenburg-Vorpommern gibt es inzwischen erfreulich viel gesellschaftlichen Widerstand. Vor allem im Vergleich mit anderen postkommunistischen Gesellschaften steht Ostdeutschland was gesellschaftliche Toleranz angeht inzwischen deutlich besser da und hat inzwischen auch dank der gesellschaftlichen Veränderungen durch die Wiedervereinigung den früherern kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas einiges an Lebensqualität voraus. Was jedoch Estland angeht, sehe ich dieses gesellschaftlichen Wiederstand gegen Fremdenfeindlichkeit und Verherrlichung der Nazi-Zeit jedoch nicht. Im Gegenteil. Die Entwicklung dort geht traurigerweise meiner Meinung nach eher in Richtung ungarische politische Verhältnisse als in Richtung mehr Toleranz.

    Ich hab als Ostdeutscher den größten Teil meines Lebens in Berlin, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern verbracht, aber auch viel im Ausland gelebt. u.A. 1 1/2 Jahre Argentinien und Ecuador, in Georgien und in Estland. Von diesen Ländern empfand ich Estland als die deutlich intolranteste und am wenigsten offene Gesellschaft. Sicherlich sind auch gerade die Menschen aus Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern nicht gerade für ihre überschäumende Offenheit gegenüber Fremden bekannt. Im Vergleich zu der beklemmenden Atmoshäre in Estland jedoch, weisen selbst Bewohner Mecklenburg-Vorpommern geradezu südamerikanisches Temprament und Offenheit auf.

    AntwortenLöschen
  6. moevenort, die Einschätzung der Verhältnisse in den ostdeutschen Bundesländern sehe ich persönlich auch so. Aber dass eestiche ein anderes Land gesehen habe, ist keine Ausnahme.
    Mal meine Perspektive beiseite (koreanisch-deutsch). Viele Fotos auf unserer Blogseite stammen von Leuten, die ich gut kenne und nicht aus Estland kommen. Darunter zum Beispiel ein amerikanischer Iraner, ein Japaner mit estnischer Freundin und viele andere. Seit Jahren suche ich Kontakt mit Leuten (nicht aus Estland), die über Commons-Licence ihre Photos über Estland veröffentlichen. Vielleicht gehört diese Gruppe zu denen, die eher ein positives Bild von Estland und seinen Einwohnern haben. Okay ich bestreite nicht, dass das für jeden zutreffen muss.

    AntwortenLöschen
  7. Soviel zur Aufklärung über den Autor: Ich habe selbst drei Jahre in Estland gelebt, eines davon in Sillamäe. Das ist schon eine Weile her, aber ich bin regelmäßig dort von Riga aus, wo ich derzeit lebe.
    @Eva: Wenn es nur um Russen ginge, gäbe es keine Probleme, es geht ja eben auch um Homosexuelle z.B.
    @eestiche: Die meisten Esten, die ich kenne, sind keineswegs zurückhaltend und ich erinnere mich immer gerne an Konzerte etwa von Gunnar Graps im von Krahli, wo die angeblich so zurückhaltenden Esten über Stühle und Tische sprangen.

    AntwortenLöschen
  8. moevenort meldet sich zurück, schön. Lieber Ort, wo die Möven wohnen, es ist ja gerade der Witz, daß es in den baltischen Staaten kein Mölln, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen gab. In Estland leben die Russen geographisch separierter als in Lettland, weshalb wes weniger Berührungspunkte gibt, aber ich kenne auch keinen Esten, der ein Problem mit ihnen hätte. Irgendwelche Nazis können wir Probleme in einem beliebigen Land machen. Ich habe in meinen mittlerweile bald 20 Jahren im Baltikum Gewalt vorwiegend im Zusammenhang mit Alkoholkonsum erlebt, der zu entkommen nie ein Problem war.
    Zweitens, moevenort, es wäre schön, ein bißchen konzentrierter zu schreiben: kürzer. Ihre Kommentare sind regelmäßig Koreferate.

    AntwortenLöschen
  9. Estland-Begeisterung in allen Ehren, aber die Esten sind nicht zurückhaltend? Hmm, entweder können wir ja mal einen russisch-estnisch-deutschen "Über-Stühle-Springen"-Wettbewerb machen, oder wir gestehen uns wenigstens ein, dass viele Est/innen eben zumindest eher wortkarg, höflich abwartend oder sogar gegenüber Fremdem eher zurückhaltend sind. (etwas anderes ist es dann, wenn Esten "unter sich" sind)
    Niemand hat ja behauptet, dass Esten kein Temparament hätten ...

    AntwortenLöschen
  10. Vielleicht kommt es immer ein wenig darauf an, wer mal selber ist, wen man kennenlernt? Ich kenne keine wortkargen Esten.

    AntwortenLöschen
  11. Kommentare würde ich kir übrigens wünschen über die Frage der Intoleranz mehr denn die der Verschlossenheit der Esten. Ersteres ist ja eigentlich das Thema des Beitrages.

    AntwortenLöschen
  12. Also ich bin tatsächlich ein zurückhaltender Mensch und hatte einfach das Gefühl unter Leuten zusein die ähnlich ticken wie ich. Zum Beispiel wurde ich nie in einem Gespräch unterbrochen, das empfand ich ganz angenehm, das heißt nun nicht das Esten nicht feiern können und alles Langweiler sind, da hab ich auch vielfach gegenteilige Erfahrung gemacht.

    An moevenort weiß ich gar nicht was ich zu der Polemik sagen soll, ich bin heilfroh in einem anderen Land gewesen zu sein, mir tut es leid das du das nicht sehen konntest. Ich weiß nicht warum wir Deutschen immer meinen das wir eine moralische Deutungshoheit über andere Länder hätten, ich darf vielleicht auch mal daran erinnern das zwischen BRD Gründung und 68er Bewegung ein bisschen Zeit lag und man anderen Gesellschaften vielleicht auch ein bisschen Zeit geben sollte. Vorallem haben sie ein Recht ihren eigenen Weg zu finden. Die alte SS-Geschichte muss ja immer gebracht werden, es ist vielleicht manchmal gut die deutsche Brille abzusetzen und zuzuhören. Ich finde nicht das die Dinge so einfach sind...

    AntwortenLöschen
  13. An eestiche: Nicht unterbrochen.. da kommt wieder ins Spiel, was Albatros gesagt hat. Das ist sicher auch eine Frage der Sprache, in der man sich bewegt. Ich würde auch nicht behaupten, daß ich in Deutschland häufig unterbrochen werde. Überdies gehöre ich zu den Leuten, die sprechen und zuhören gleichzeitig können.
    Kommentar zu moevenort, keiner. So ist es. Ließe sich vielleicht noch psychologisch was zu sagen, aber das ist hier der falsche Ort. Ich finde auch, daß moevenort alles niedermacht, was nicht denkt wie er und sich in der Vergangenheit auch hier im Blog sehr einseitig an einzelne Theoretiker gehängt hat. Aber wiederholen wir das nicht.

    AntwortenLöschen
  14. Kleine Frage: wer von den hier postenden spricht und versteht eigentlich estnisch?

    Denn dann stellt sich die Frage nach Toleranz schon anders.

    Ich dürfte inzwischen in Estland voll integriert sein (was 17 Jahre brauchte) - und stelle immer wieder fest, von "meinen Esten" in "Intoleranz-Gespräche" gezogen werden zu wollen. Es ist wahr: Toleranz (zu der ich konkret auch in einem meiner letzten Interviews aufgerufen habe), hat in Estlan (noch) wenig Stellenwert.

    PS: Gunnar Graps lebt ja nun schon lange nicht mehr, das Konzert fand sicherlich noch in der (Hoch)Stimmung der 90er Jahre statt. An diese kann man sich heute mit Wehmut und Dankbarkeit erinnern.

    Ute Wohlrab

    AntwortenLöschen
  15. Ute,

    von den hier Postenden wird Estnisch auf verschiedenen Niveaustufen gesprochen und verstanden (alle?), das hat aber nur bedingt Konsequenzen, was daraus zu folgern ist.

    AntwortenLöschen
  16. Ich war in der vergangenen Woche in Estland und u.a. in Tartu. Dort konnte ich die Ergebnisse der hier zitierten Untersuchung leider einmal wieder live erleben: Nach einem Restaurantbesuch wurden wir (u.a. drei junge Deutsche) von zwei jugendlichen Esten angesprochen, die mitgekriegt hatten, dass wir uns auf Deutsch unterhalten hatten. Sie lachten uns vertraulich an und rühmten die SS. Was dann folgte war die Bemerkung, dass ja Estland als erstes Land im 2. WK "judenfrei" gewesen sei ( das Wort wurde auf deutsch von ihnen benutzt). Als wir sie darauf aufmerksam machten, dass wir jegliche Verherrlichung nationalsozialistischer Verbrechen strikt ablehnen, reagierten sie mit Unverständnis und meinten es sei doch schade, dass man "über solche Dinge in Deutschland nicht mehr offen reden könne". -so viel zur alltäglichen Realität in Sachen Toleranz in Estland, erlebt nur wenige Stunden nach meiner Ankunft in Tartu. Ich könnte ebenfalls hinzufügen, dass ich auf meiner Rückreise in Valga auf dem Weg per Zug nach Riga wenige Tage später ein ähnliches Erlebnis hatte: diesmal war ein alter Mann, der unbedingt von seiner Waffenbrüderschaft mit der deutschen Wehrmacht und SS berichten wollte und sichtlich stolz darauf war.

    Heute las ich dann die ETV Meldung, dass ein schwartafrikanischer Doktorand aus Kamerun offensichtlich nach mehreren rassistischen Übergriffen Tartu verlassen hat und nun seine Dissertation in Berlin fortsetzt. Maris Mälzer, Sprecherin der estnischen Studentenorganisation in Tartu meint dazu und zu anderen Fällen:

    "I myself have been in a situation where a black student asked me to make like I was in a deep conversation with him in Town Hall Square, because he said if he were talking to a woman, no one would hopefully attack him. He mentioned that it was not the first time and that he was considering leaving Estonia."

    alles in Ordnung also in Estland? nur "alte SS-Geschichten"? - wohl kaum. Ich mag keine Verharmlosungen, sondern bin dafür dass man Realitäten so wie sie sind zur Kenntnis nimmt und sich nicht mit Verhätnissen wie den eben zitierten abfindet. Bis dahin hat Estland meiner Meinung nach jedoch noch einen verdammt langen Weg vor sich.

    an Eestiche: ich wundere mich ein bischen, dass Du offensichtlich offenbar von diesen Dingen während deiner Zeit in Estland offenbar überhaupt nichts mitbekommen haben willst. Diese Dinge kann man gar nicht übersehen. Vielleicht solltest Du weniger versuchen, dir ein romantisch-verklärtes Traumbild zu schaffen als vielmehr offenkundige Dinge einfach einmal wahrzunehmen. Speziell in Tartu räumt selbst die dortige Polizei ein offenkundiges Problem mit rechtsextremen und rassistischen Tendenzen speziell unter jungen Esten ein. Restaurants wie z.b. das mitten in der Innenstadt von Tartu gelegene "Paul Kuus" sind als Treffpunkt von Neonazis unter Esten und Ausländern wohlbekannt. Allein man findet sich offensichtlich damit ab.

    AntwortenLöschen