Donnerstag, Januar 03, 2008

Ein Schriftstellerkollege - eine Außenansicht Estlands

Wie Jens Olaf schon richtig bemerkte, führten die historischen Themen in den Büchern von Jaan Kross vor allem auch Menschen mit deutschbaltischen Bezügen zu einer Auseinandersetzung mit dem Autor. Einige der Bücher von Kross erschienen gerade Anfang der 90er Jahre, als auch Begegnung und Austausch mit Estland einfacher wurden, nach Jahrzehnten der Abschottung.

Nicht zu vernachlässigen sind jedoch auch die immer wiederkehrenden Fragen nach der gesellschaftlichen Gegenwart in Estland. Wer heute ein ins Deutsche übersetztes Buch aus Estland lesen möchte, könnte ja Kross als Grundlage nehmen ("Der Verrückte des Zaren" und "Professor Martens Abreise" sind gegenwärtig im Handel lieferbar, teilweise als Taschenbuch, oder auch "Die Frauen von Wesenberg"). Ich möchte mal auf ein anderes Buch aufmerksam machen, und würde gerne mal andere Meinungen hören, wie hier Estland in der Literatur gespiegelt wird. Ich meine das kürzlich auf Deutsch erschienene Buch des Engländers Adam Thorpe mit dem Titel "Taktverschiebung" (Original: "Between each breath"). Foto: Adam Thorpe (Quelle: Lucky Luck Associates)

"Essen Sie lieber ihren Kuchen bevor mich," sagt die sportliche Estin Kaja ihrem englisch sprechenden Kunden in einem Café in Tallinn.
Später wird Jack (der in Ich-Form erzählt, solange die Handlung in Estland spielt) behaupten, um seine estnischen erotischen Heimlichkeiten zu verbergen, dass "diese Mädchen aus den ehemaligen kommmunistischen Staaten oder Thailand oder so" es ja immer so machen: sie "werfen ihre Netze aus, schlafen mit jedem", angeln sich "irgendeinen armen Schlucker" ihm sie dann hinterher zu erpressen. Die "Kaja-Bedrohung" für sein gut bürgerliches, aber kaum ereignisreiches Leben im englischen Wohlstandsghetto. "Die Sex-Metropole der Welt" lässt Thorpe die englischen Bekannten des forschen Tallinn-Abenteurers sagen, oder auch "der Polterabend in Tallinn" (war im englischen Original wohl dasselbe gemeint, was es im Deutschen bedeutet?).

Jack ist Komponist moderner Musik, und ein Fan von Arvo Pärt. Um eine Auftragsarbeit zu estnischen Themen vorzubereiten, fährt er wie zur Recherche nach Tallinn. Das Estnische in Thorpes Buch erscheint nahezu unverändert, fast Original, real beschrieben (für diejenigen, die Estland kennen). Der "Held" des Buches, Jack, wie ein Kurzzeit-Besuch eines "Wessis" eben (und "Wessis" wollen sich vergnügen, oder?). Dieser Wessi hat seltsamerweise Kenntnisse über Estland, die nicht nur aus einem Reiseführer stammen können. Kaja, die Kellnerin, ist aus "Haaremaa" - unverkennbar, dass hier die größte estnische Insel (Saaremaa) gemeint ist.
Im Buch wird aber "Haaremaa" noch näher erklärt: "haare wie estnisch greifen", erklärt Kaja, oder "Insel des Entfaltens", gepaart mit holprigen sprachlichen Unzulänglichkeiten Kajas im Englischen. Kaja: "Wahrscheinlich ist es die Insel der Espen, 'haa', aus dänischen Zeiten, und wir haben es nur vergessen. Gibt es Espen bei euch in England?" fragt Kaja, und erklärt dazu: "Ihre Blätter zittern, und sie leben nicht allzu lang" (hallo ihr Baumexperten! Ist das in Estland biologisches Allgemeingut?). Ihr männliches Gegenüber aber erwidert doch glatt: "Meine Espe, du," denkt aber offensichtlich in erster Linie an kurzfristige Freuden mit seiner heimlichen Geliebten. Jacks eigene Versuche ein paar Brocken Estnisch zu lernen - wieder ganz Tourist der anbändeln will - enden kläglich und zu Lasten seiner angeblich verehrten estnischen Kurzzeitgeliebten.

Jack's Frau (Milly) verliert zu Hause das gemeinsame Kind durch einen leichten Autounfall, Jack fühlt sich schuldig und taucht lange Kapitel nicht mehr aus diesem englischen Kleinstadtmilieu wieder auf. Gut, das "England unter Blair" soll er beschreiben, das sagen die Kritiken. Andere finden es wieder interessant, dass Milly ausgerechnet mit Öko Business macht, und davon ganz erfüllt scheint. Oder die anderen englischen Männer, deren kümmerliche Existenzen angeblich mit Ironie beschrieben sind (das könnte ja in der englischen Fassung durchaus anders wirken als in der deutschen, für Deutsche veröffentlicht). Ich habe mich durchgekämpft bis zu dem Abschnitt, als Jack plötzlich doch wieder in Estland ist. Allerdings ebenfalls kümmerlich, unehrlich, bestenfalls verwirrt. Milly hat sich von ihm getrennt (und was machen Männer, wenn ihnen die Frauen weglaufen?).

Es gibt einige andere Symboliken in diesem Buch, die auch vielleicht nicht "Estnisch" sind, sondern Thorpe's Vorlieben entsprechen. Zum Beispiel der Vergleich des Gesichts der geliebten Kaja mit einer "Kaurimuschel". Diese Art ist ja wohl nicht typisch für Estland. Oder, wer weiß mehr? - Über die Kaurimuschels ist zu finden, dass sie aus Afrika, Ostindien und der Südsee bekannt war, "auch als Zahlungsmittel im Sklavenhandel". Welche Assoziation hat Thorpe nun hier? Eine ästhetisch aufgemachte Anspielung auf die ökonomischen Ungleichheiten zwischen West- und Osteuropa?

Es gibt aber auch gute Beobachtungen. Entweder hat sich Thorpe hier den Stoff "angelesen" (gibt also tendenziell doch nur oft beschriebene Estland-Phänomene" wieder), oder er war zur Recherche selbst da - denn untypisch sind solche Beschreibungen nicht. Ein Beispiel: "Der Barmann mit dem rasierten Schädel war mit Gläserputzen beschäftigt; als er mich sah, lächelte er auf diese leise, ernste Art der Esten - wenn sie überhaupt lächelten."
Oder auch, aus der Beschreibung eines Konzerterlebnisses in Estland: "Ein Mann in einem blauen Anzug, mit blauer Krawatte und einer Beethoven-Mähne kam von hinten auf die Bühne. Die einzigen Worte, die ich in seiner Rede erkannte, waren Namen: Händel, Acis, Polyphemus,Galathea, Ovid und KP-Erdnussbutter - obwohl Letzteres wohl eher ein phonetischer Zufall gewesen sein muss. Der Mann verbeugte sich zum diskreten Applaus, der länger anhielt, als es in England der Fall gewesen wäre, aber nicht so lange wie in Deutschland. Als die Künstler hervorkamen, belebte sich der schon beinahe erstorbene Beifall zu einem übertriebenen Crescendo, was auf die Anwesenheit von Freunden und Verwandten schließen ließ."

Außerhalb Estlands wird Thorpe's Story auffällig ungenau - wenn es sich nicht um England handelt. Den tatsächliche Vorfall eines Mordes an einer französischen Schauspielerin verlegt er von Litauen nach Lettland (S.275 - zu den tatsächlichen Hintergründen siehe z.B. diesen Bericht aus dem STERN), oder es heißt auch schon mal "Belorus oder so." Die typischen Verwechslungen, wie es auch aus deutscher Perspektive der Fall wäre.

Das Erholsamste am ganzen Buch zum Schluß: die schallende und schmerzhafte Ohrfeige, die Kaja ihrem "englischen Freund" zu Anfang des Buches austeilt. Es reicht für das ganze Buch. Denn ein wenig wünscht man Estland, es möge doch bitte mit einem Buch über die Engländer zurückschlagen.

Infos zum Buch:

Rezensionen
"Eindrucksvoll, klug und komplex" - so Literaturnetz

"Ausflug nach Estland" - in der Kölnische Rundschau

"Kitsch, Krampf und Klischees" - meint die Neue Züricher Zeitung

zur englischen Ausgabe Platz 47 bei "Eric Forbes Best Reads 2007"

"Down and out in Hampstead" im Guardian / Observer ("Reeaders expect a virtual EasyJet-Tour", kommentiert hier der Kritiker zur Story)

Kritik an der Buchkritik: Blog bei "First drafts"

Kommentar bei "Fantastic & Fiction"

David Horspool in der Sunday Times

"How a trying time became a tragic time" - beim Telegraph: "a melodrama of the highest order"

Info des Britsh Council zu Adam Thorpe

zu Adam Thorpe bei Lucky Luck Associates

1 Kommentar:

  1. Danke für den Tipp Jaan Kroos. Ich wollte was estnisches lesen, kannte den Autor vorher nicht, hab "die Frauen von Wesenberg" gebraucht erstanden und er hat meine Erwartungen weit übertroffen!

    Danke auch für deinen Blog, wunderbar wie er Estland in allen Facetten zum leuchten bringt!

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