Montag, April 30, 2007

Zwischentöne

Nun also steht er wieder, der Bronzesoldat. Inzwischen so wichtig geworden, dass die deutschen Abend- nachrichten tägliche Meldungen dazu bringen.
Kaum zu wiederholen sind die vielen unterschiedlichen Meldungen der Tagespresse - aber ein paar Gedanken möchte ich festhalten. Etwas zur Ruhe gekommen, wird es auch um Einschätzungen gehen, was hier eigentlich passiert ist. Mir selbst ist in diesen Tagen sehr Unterschiedliches durch den Kopf gegangen. (Foto: Eesti Express)

1) Etwas hat sich verändert. Zurecht wurde daran erinnert, dass Estland und die baltischen Staaten jetzt schon seit Anfang der 90er Jahre von jeglichen gewaltsamen Unruhen verschont wurden. Damals waren die Ereignisse oft ganz anders in die Weltpolitik eingebunden: als die schwarzen Barette 1991 in Litauen und Lettland losschlugen, schaute die Welt gebannt auf den Irak. Diesmal bestimmte Moskau selbst das Drehbuch: ein Abbruch des Abrüstungsprozesses wurde offen angekündigt. Und Unruhen in Tallinn waren Moskau offensichtlich sehr willkommen.


2) Die geplante Umsetzung des Bronzesoldaten war schon seit Monaten Thema einer eher quälenden Diskussion. Ich gebe zu, auch ich hatte gehofft, dass es mit dem Ende des estnischen Parlamentswahlkampfes endlich wieder ruhiger zugehen würde. Soldatengräber sind eben eigentlich "nur" Soldatengräber, und Toten (egal unter welchem Banner sie kämpften) gebührt ihre Ruhe. Nun diese hektische Aktion, noch bevor erneut "eine Befreiung Estlands" gefeiert werden konnte (wie es die Sowjetnolstalgiker tun), und bevor andere "Russen raus" rufen konnten. Eine Aktion in bester Absicht? Vielleicht ist ja doch irgend etwas verpaßt worden, wenn nur noch Polizeigewalt hilft. Allerdings: nur um dieses Denkmal ging es den randalierenden Jugendlichen wohl kaum.


3) Erstaunlich, wie gut informiert die deutsche Presse berichtete. Kaum Häme, kaum Vorteile oder Vorwürfe. Nicht einmal in den direkten Zusammenhang von US-amerikanischen Raketenträumen und russischem Abrüstungs-Aufkündigung wurden die Ereignisse gestellt. Wahrscheinlich dominierte derselbe schreckliche Gedanke im Hinterkopf - geäussert auch im "
Russland-Forum": Kalter Krieg, die Zweite?
Aber der Russland-interne erschreckende Umgang mit Demonstrationsfreiheit und Demokratie hat wohl viele potentielle Russland-Freunde verstummen lassen. Allzu schnell trat in Tallinn auch Zerstörungswut und Lust an der Randale in den Vordergrund. Alle verstummt? Nein, nur Altkanzler Schröder wiederholte auf dümmlichste Art die Headlines der staatlich kontrollierten russischen Staatspropaganda. Kein Ruhmesblatt für einen Deutschen.

4) Estland, das ist Englisch. Jens-Olaf bemerkte schon in diesem Forum, dass auch Regierungschef Ansip "kein Kommunikationstalent" sei. Das, was sich estnische Politiker und Diplomaten im deutschen Fernsehen geleistet haben, war ebenfalls keine Glanzleistung. Einschließlich des estnischen Botschafters. Ja, kann denn hier niemand vernünftiges Deutsch, wenn es darum geht, den Deutschen die eigene Perspektive zu erklären? Damit verglichen, haben die Deutschen erstaunlich viel von der estnischen Perspektive verstanden. Hat jemand die 3sat-Sendung von heute gesehen ("Kulturzeit"), wo ein estnischer Künstler, befragt nach den Ereignissen und einer Einschätzung, minutenlang augenrollend vor sich hin stammelte?

5) Estland, das ist Internet. Ja, aber nicht alles läßt sich so schön allgemeinverständlich wie anonym vorbereiten, dass es andere dann nur noch wortlos ablesen müssen. Liebe Esten, redet mit uns! Oder besser noch: redet mit den Menschen in Estland; möglichst mit allen. Es können doch nicht alles nur Technokraten, Handyfuzzies und Börsenspekulanten sein?

6) Russland wütet. "Liebe Russen," möchte man am liebsten sagen, "habt ihr wirklich den kapitalistischen Konsumrausch jetzt schon so satt, dass ihr blind drauflos wütet, berauscht vom billigen Fusel alles zerschlagt - war es das, was gemeint war?"
Die russische Politik nutzt es weidlich aus. Im Deutschlandradio heute ein guter Bericht zu jungen russischen Nationalisten, die vom Slogan "alle Esten sind Faschisten" überzeugt scheinen. Das kann es ja wohl nicht sein! Aber Putin und seine Gefolgsleute tun wenig, um die angeblich beabsichtigte Menschenliebe, Verständnis und Frieden zu fördern. Heute wütete eine offizielle Delegation der Duma durch Estland, ignorierte alle von den estnischen Gastgebern vorbereiteten Gesprächsangebote, düpierte selbst die versammelte Weltpresse, und führte sich als Möchtegern-Retter von inhaftierten Randalierern auf. Sowas gibt allen, die selbst genügend Freunde in Russland (oder eben Russen in Estland) haben, schmerzliche Stiche. Erschreckende Dümmlichkeit.

Wer nicht wütet, ist Schirinowski. Schon öfter traute er sich öffentlich von einer "Rückeroberung des Baltikums" zu träumen, nun reagiert er anders. In einem Vorort von Moskau (Chimki) wurde nämlich ein sowjetisches Denkmal stillschweigend abgeräumt, und wenn man Presseberichten glauben kann (wiederum Russland-Aktuell), dann gingen bei dieser Umbettung sogar die sterblichen Überreste der Soldaten verloren. Nun will der bekannt impulsive Schirinowski lieber erst mal im eigenen Lande kümmern - führte aber dennoch die Domonstrationen vor der estnischen Botschaft in Moskau an.

Unter den Bloggern - auch unter denen, die sonst wenig mit Estland zu tun haben - wird kommentiert. Auch hier erstaunlich besonnen, und im Wissen um Zusammenhänge (Beispiele: schonleben.de, Readers Edition, Zettels Raum, Frisch gebloggt, Zurpolitik). Das läßt den Schluß zu: Estland ist in Europa nicht so unbekannt mehr. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage sowieso nicht.
Und Heise.de meldet, unbekannte Hacker haben die Webseite des estnischen Außenministeriums gestern zum Zusammenbruch gebracht. Inzwischen steht sie wieder.

Nun kommt der Mai. Hoffentlich ein friedlicher.

Bronzesoldat mit neuer Heimat am Montag

Weiterhin kein Alokoholverkauf in Maerkten, jetzt werden gelbe Planen hinzugefuegt.


Diese Boulevardzeitung schreibt: Astrologen sehen duestere Zeiten auf Estland zukommen.


Die Regierung hatte versprochen die Bronzestatue am Montag auf einem internationalen Soldatenfriedhof zu versetzen und neu einzuweihen. Der noch fehlende Hinterbau mit den weissen Steinen soll noch hinzugefuegt werden. Das Ergebnis, hier.

Noch mehr Bronzesoldat

Prohibition, Alkoholverkauf eingestellt. Hinweise in einer Tankstelle in Voru.


Einsame Gestalt mit russischer Flagge in Tartu
Eine Gruppe russischssprachiger Passanten verwickeln einen Polizisten in eine Diskussion, der Rathausplatz zu dieser Zeit ist fast leer.
Polizei an der Ecke Rathaus Tartu gegen 22 Uhr

Tartu SMS
Originally uploaded by Jens-Olaf.
Gestern sassen wir mit Giustino, Itching for Eestimaa und Flasher_T (siehe Bloggrolllinks) in einem Lokal am Rathausplatz, als eine SMS eintraf. Obwohl die Mobilnummer kaum jemand bekannt ist: Der Text ist auf Russisch und besagt, dass bis Ansips Ruecktritt der Verkehr ab 12 Uhr fuer einige Zeit auf 5km h beschraenkt werden soll.
Ansip ist fuer die radikalen (Nichtesten) , der meistgehasste Politiker. Ansip ist Ministerpraesident, und nicht gerade ein Kommunikationstalent.
Parolen, die auf Waenden in Tartu gegen ihn gerichtet waren, sind gestern wieder entfernt worden. Mindestens zwei am Emajoegi, dem Stadtfluss.


Giustino bei der "Arbeit" an seinem Blog Itching for Eestimaa. Die letzten zwei Tage kann er kaum mehr den Kommentaren nach den Tallinntumulten nachfolgen.

Sonntag, April 29, 2007

Die dritte Nacht

Blieb ruhig in Tartu. Zur Zeit laufen die beruechtigten Studententage mit unzaehligen Veranstaltungen und Feiern. Aber viele haben sich an die Aufforderung gehalten zu Hause zu bleiben. Gegen 22 Uhr waren viel Polizei und Sicherheitskraefte am Rathaus und der unmittelbaren Umgebung anwesend. Naehe des Pulverkellers hinter dem Rathaus, wo sonst die Studenten feiern, war Leere. Das Zelt auf dem zentralen Platz ebenfalls leer, weil es dort nur zu Essen gab und seit gestern draussen und in Maerkten kein Alkohol mehr verkauft werden darf.

Geruechte laufen um,dass es am 1.Mai oder um den 9. Mai wieder unruhig werden kann. Das Fernsehen berichtet unablaessig ueber die vergangenen Tage.
Waehrend des Blueskonzerts gegen Mitternacht im Pulverkeller sagte der Frontsaenger zum Publikum, irgendwie muessen wir doch zusammenleben.

Update:
Alle delfiNachrichten-Portale in Estland haben die Kommentarfunktion eingestellt.

Gegen 1Uhr umringt eine russischsprechende Gruppe einen Polizisten, sie diskutieren miteineinander naehe Rathaus, kurz darauf stoesst ein Einzelner Passant mit umgehaengter Russland-Fahne dazu. Wenig spaeter setzt er sich auf eine Sitzbank in der Fussgaengerzone und wird auch in Gespraech mit Esten verwickelt. Die "Russen" bleiben noch eine weitere halbe Stunde vor einem Lokal stehen, wo sie fast ununterbrochen mit zwei weiteren Polizisten weiterdiskutieren. Zum Teil wird gelacht.

Samstag, April 28, 2007

Unruhen in Tallinn - die zweite Nacht


Tallinn riots
Originally uploaded by Jens-Olaf.
Szenen, die am Morgen in Lettland im Fernsehen zu sehen waren.Die Gefaegnisse sind laut delfi.lv nicht mehr aufnahmefaehig. Eine Zusammenfassung der Ereignisse der Nacht spaeter.

Update: Heute morgen in Valka, ein paar hundert Meter entfernt von der estnischen Grenze, ist Eishockey das bestimmende Thema. Die Trickots für das Spiel am Abend in Moskau liegen bereit. Selbst einem Ukrainer mit serbischen Wurzeln, der schon kräftig in die Vodkaflasche geschaut hatte war Estland überhaupt nicht wichtig. Er wollte nur sagen, dass die Serben keine Terroristen seien.
Schon anders in Võru. Der Lokalredakteur der Lõunaleht zeigte eine Email von gestern Nachmittag, die an alle Besitzer eines Mobiltelefon (die meisten)in Estland versendet wurde. Ein SMS- Mitteilung der estnischen Regierung: Man solle zu Hause bleiben und sich nicht auf Provokationen einlassen.
Er berichtet auch von estnischen Schülern, die sich im Internet austauschen und etwas für die Unterstützung Estlands unternehmen wollen. Sie wollen nicht passiv bleiben.
Unterhalb der Zeitungsredaktion ist im Gebäude ein Laden untergebracht. Die Verkäuferin berichtet, dass am Morgen ein Kunde darauf bestand jetzt auf Russisch bedient zu werden. Vielleicht nur ein beiläufiges Alltagserlebnis oder doch ein Riss der grösser wird in der Gesellschaft Estlands? Fortsetzung folgt.

Update: Die SMS-Mitteilung der Regierung gestern hat wohl andere verleitet diesen Weg zur Desinformation zu missbrauchen:
Die Websites der estnischen Regierung und des Außenministeriums sind etwa seit Samstag Vormittag nicht mehr abrufbar.
Bereits in der Früh hatte die estnische Nachrichtenagentur BNS von einer Anhäufung nächtlicher Angriffe auf die Regierungs-Homepage und verschiedene andere Internet-Seiten in Estland berichtet.
Zusammenhang mit Kriegsdenkmal?
Weiters hätten Kunden estnischer Handy-Betreiber gefälschte und absichtliche Fehlinformationen enthaltende SMS-Nachrichten erhalten, die scheinbar von estnischen Regierungsnummern gesendet wurden.
Die Pressestelle der Regierung riet den Bürgern, derartige SMS-Informationen gegebenenfalls nachzuprüfen.
Futurezone des ORF.
Allerdings ist die Regierungseite am Nachmittag wieder online.

Update: Wo bleibt Edgar Savisaar? Er ist der Bürgermeister von Tallinn. Ein sogennanter Populist, der nichst sagt. Nur Ansip sei schuld. So schreibt er auf seiner Blogseite, nichts zu den Plünderungen, nichts zu den Geschädigten. Die Zeitung Postimees hat auf seine Stellungnahme in seinem Blog hingewiesen. Die Kommentarspalte im Postimeesbericht quillt geradezu über. Savisaar wird zugeschüttet mit Kritik,über 200 Lesermeinungen in 30 min.

In Virumaa wurden Gräber der Kriegsgegner der Sowjets verwüstet, darunter Gräber der "Freiwilligen" aus der Niederlande. (noch nicht bestätigte Meldung)

Update 21.Uhr:
In Võru haben wir verpennt einzukaufen: Es gibt keinen Bierverkauf und auch sonstige Alkoholika erhältlich mehr seit heute 18Uhr in allen Supermärkten Estlands. Eine Frau von der Sicherheit stand vor einem rotweissen Band, das die Getränkeecke abgriegelt. Wer unbedingt will, darf sein Bier bis zum 3. Mai ausschliesslich in Kneipen bekommen. In der nächsten Tankstelle haben wir überprüft , ob das überall eingehalten wird. Die Kühlschränke waren alle mit entsprechenden Hinweisschildern versehen. Also auch hier nicht.

Freitag, April 27, 2007

Bronzesoldat in estnischen Tageszeitungen

Eesti Paevaleht zeigt die Vorgaenge tagsueber, die bereits Kloty in den Kommentaren angesprochen hat. Den Einsatz von Traenengas gegenueber Demonstranten. Ein andere Entwicklung war gegen Mitternacht zu beobachten. Dafuer steht das kleine Foto mit dem umgestuerzten Auto bei SL Ohtuleht.

Bronzener Soldat Freitag Nacht


pogrom022
Originally uploaded by neoroma.
Fotos der vergangenen Nacht von Neorama, neueste Nachrichten von der Nacht zum Freitag unten in den Kommentaren des vorherigen Posts.


Flasher_T aus einiger Distanz zu den Ereignissen mit einem lesenswerten Kommentar dazu auf Englisch.

Auch auf dieser lettischen Seite von TVNET findet sich ein Link zu einer Fotogalerie der Ereignisse.

Und ein Stimmungsbericht (englisch) auch bei ANTYX

Schwere Unruhen in Tallinn

Hier nochmal der Link zu KLOTYs aktuellem Bericht aus Tallinn.

Sowie hier auch die Links zu den Fotos (danke, Kloty!)
FOTOSERIE DELFI.EE

Fotos auf fug1t1v3

Donnerstag, April 26, 2007

Bronzener Soldat Fortsetzung

Der estnische Ministerpraesident Andrus Ansip erklaerte in einem auf russisch gefuehrten Radiointerview, das Denkmal selbst werde auch noch am 8. und 9. Mai, den Jahrestagen des Kriegsendes, stehen, da seine Demontage so schnell nicht zu bewerkstelligen sei.
Laut Ansip wurden unter dem Denkmal aber keine 13 Soldaten bestattet, sondern nur zwei, die im September 1944 betrunken von ihrem eigenen Panzer ueberrollt worden seien. Nach dem Sturm Tallinns haette es unter den russischen Truppen ein Saufgelage gegeben.
berichtet Russland.ru
Solange wird noch an dem Denkmal gegraben, bis hoffentlich Klarheit besteht, wer denn nun dort bestattet wurde. Ausserdem gibt es verschiedene Versionen ueber die Vorgaenge aus der Zeit von 1944 bis nach der Errichtung des Vorgaenger-Monuments.
Zur Zeit kann ich die Vorgaenge in Tallinn aus lettischer Sicht betrachten. Mehrmals am Abend in Fernsehen liefen gestern Wiederholungen der Feiern von Sowjetveteranen in Riga vom letzten Jahr. Das dafuer vorgesehene Denkmal ist aber ausserhalb des Stadtzentrums der lettischen Hauptstadt. Dass Demonstrationen um das Tallinner Monument dieses Jahr verhindert werden sollen wird aufmerksam verfolgt, ebenso die Reaktionen aus Russland. Solange wird in der Altstadt Riga ein anderes Datum gefeiert werden, wobei die Vorbereitungen schon laufen: der Tag der Verabschiedung der Verfassung der Republik Lettlands.

Montag, April 23, 2007

Boris Jelzin und das Baltikum


Es gab Zeiten, da haben selbst Russland und die baltischen Staaten gleiche Ziele verfolgt. Zwar nur kurz, aber eine entscheidene Episode ist die Unterstützung Boris Jelzins für die Souveränitätsbestrebungen von Estland, Lettland und Litauen, während Gorbatschow als Chef in der noch vorhandenen Sowjetunion die alten Verhältnisse retten wollte: Eine erneuerte Sowjetunion. Boris Jelzin hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er für die Russische Föderation ebenfalls die Souveränität anstrebte. Und damit war er fast auf gleicher Linie mit den Bestrebungen im Baltikum im Sommmer 1990. Die Sowjetunion sollte noch ein blutiges weiteres Jahr erleben (Januar 1991), dann war Schluss. Leider auch mit der Gemeinsamkeit zwischen Russland und dem Baltikum.
Boris Jelzin ist heute gestorben. In Wikipedia steht:
Er war der erste Staatspräsident der Russischen Föderation (1991–1999) und das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte Russlands.


Dieses Buch hatten zwei Teilnehmer an einer wissenschaftlichen Tagung in Tartu aus Russland mitgebracht, Anfang 1992. Die Hauptstichworte auf der Titelseite des Buches "Perestroika: The CRUNCH is NOW...": Lithuania, Yeltsin, Food, Nationalism, Gorbachev. Das macht deutlich, wie wichtig das Entscheidungsjahr 1990 war. Vor dem Augustputsch 1991.

Freitag, April 20, 2007

Wo bleibt das Saku Originaal?

Gemeint ist das "bekannteste" estnische Bier. In Deutschland kaum aufzutreiben. Dafür aber Eintopfsuppen, traditionell abgefüllt in Gläsern. Ein willkommenes Angebot für etwas ausgehungerte Expat-Esten in Deutschland, vor anderhalb Jahren gab es hier einmal ein Post darüber. Allerdings finden sich estnische Produkte vor allem in den "Russenmärkten", die für ihr riesiges "Saure Gurken"-Angebot berüchtigt sind. Angeblich kommt das Salz der deutschen Gurkeneinmacher nicht gut an. Dann müssen die Gurken eben importiert werden. Aber wer vermisst VANA TALLINN, DEN Likör aus Estland? Jetzt auch in Osnabrück:

Und wenn das schon vorhanden ist, gibt es natürlich auch Fisch, von Viru Rand zum Beispiel. Lässt sich freizügig auch als Estland-Strand übersetzen. Die Beschriftung ansonsten auf Russisch:

Was sonst noch in dem selben Supermarkt einer mittelgroßen Stadt in Norddeutschland auffiel, war die Wurst Tallinskaja. Auf die Frage, ob da etwa estnisches Rezept oder Herkunft dahinterstecken, hat die Verkäuferin nur laut aufgelacht und mit Kopfschütteln verneint. Das sind so die Fragen, mit denen man sich als Nichtkenner outet. Das beste war bisher eine Frage in der DDR auf offener Straße in Ostberlin an einem Zeitungskiosk. Ob es hier die Pravda auch auf Deutsch gebe. Drumherum brach ein Gelächter aus, nach dem Motto, wie kann man nur so naiv sein.

Mittwoch, April 18, 2007

Die unendliche Geschichte - "Pronkssõdur"


Halo
Originally uploaded by Flasher T.
Der Bronze Soldat in Tallinn. Je nach Lesweise der Geschichte ein Monument und Symbol für die Gefallenen des 2. Weltkriegs oder für die "Befreiung" von den Nazis oder für die Befreiung Estlands. Letzteres sehen die Esten anders. Vielleicht läßt es sich mit den zwei ersteren Interpretationen leben. Aber die Politik hat entschieden. Ende April sollen Ausgrabungen am Denkmal stattfinden. Sie sollen klären, ob an diesem Ort tatsächlich Sowjetsoldaten bestattet wurden. Es gibt eine Gruppe "Denkmalbeschützer", die vor dem Präsidentenpalast Kadriorg für den Bestand des Denkmal an hergebrachter Stelle demonstrierten. Sie meinen, der estnische Präsident hätte sein Wort dafür eingelegt. Wahrscheinlich werden die Ausgrabungen über den 9. Mai hinaus gehen. Dem Tag des "Sieges" über Nazideutschland. Somit werden wohl alle Gegner und Befürworter des Denkmals sich einen anderen Ort für weitere Aktionen suchen müssen. Fortsetzung folgt.

Montag, April 16, 2007

Aufbruchstimmung - Anno 1993

Sie fand nicht in diese Richtung statt: Eine Finnisch-Ugrische Wirtschaftsunion hat es nicht gegeben. Es war am Ende die Europäische Union 2004 mit all ihren Beitrittskriterien, die zu erfüllen waren. Aber das waren die Perspektiven, die vielen Esten möglich erschienen vor bald 15 Jahren. Hier in der HanseZeitung von 1993.

In der gleichen Zeitung wurden auch Mythen bemüht, die kaum der Wirklichkeit entsprechen. Dort wird behauptet: " Die historische Hansebewegung wurde als Gegengewicht zur feudalen Zersplitterung Europas geboren. Sie war als integrierende Idee gedacht, im Gegensatz zu persönlichen Ambitionen und politischen Augenblicken".
Na ja, viele Historiker stimmen auch überein, dass der Hansebund eine Vereinigung von Egoisten war, alles in ihrem Interesse, solange es den eigenen Vorteilen diente. Siehe Krieg gegen Dänemark im Mittelalter. In Dänemark wird die Hanse auch nicht gerade als das Fortschrittselement sondern als Konkurrent angesehen.
Update:
Larko macht in seinem Kommentar zu diesem Post deutlich, dass es wohl eher eine Minderheitenmeinung war, eine finnougrische Wirtschaftsunion zu gründen.Hier noch eine Vision von 1993 in einer Anzeigenbeilage der Newsweek:

Donnerstag, April 12, 2007

Sakala Ruinen und der Architekt Karp


Sakala ruins
Originally uploaded by kalevkevad.
Im vorletzten Post ging es um "sowjetische" Architektur vor allem in Tallinn. und den Abriss des Sakala-Zentrums. Aber hinter den früheren Bauplänen verbirgt sich in Estland häufig der bekannte Architekt Karp, der jetzt einen Preis für sein Werk erhalten hat:
There’s nothing neutral about Raine Karp’s architecture. He is, at equal times, the most loved and loathed architect in Estonia. Ask any visitor or resident of Tallinn their opinion of his monolithic concrete and limestone buildings, and listen to the expletives or exaltations fly. Lately, though, the chorus of praise has begun to grow louder than the calls for the wrecking balls.
This week Karp – designer of the Linnahall, the National Library and the Central Post Office – was presented with a Kultuurikapital endowment, a yearly prize given to honor Estonia’s greatest culture-shapers.



Der ganze Artikel in der Baltic Times.
Neben sowjetischer Geschichtsschreibung, siehe Kontroverse um den Bronzenen Soldaten, gibt es offensichtlich weitere Auseinandersetzungen über die Deutungsweise der vergangenen Jahrzehnte. Nur, dass bei Architektur auch über Ästhetik gestritten werden darf.

Freitag, April 06, 2007

Ein wenig Recycling, ein wenig Stabilität







Regierungsantritt: Bekanntes & Neues
Am 5.April wurde die neue estnische Regierung unter Ministerpräsident Andrus Ansip im Parlament mit 62 von 101 Stimmen bestätigt, und auch die Ministerriege wurde vereidigt. Die Reformpartei stellt dabei 6, die Union aus "Pro Partria" und "Res Publica" 5, und die estnischen Sozialdemokraten 3 Minister/innen.
Der ehemalige Ministerpräsident Juhan Parts, einst aufgehender Stern der "Res Publika", wird nun Minister für Wirtschaft und Kommunikation. Angesichts der früheren Kampagnen ("Vali kord!") seiner Partei, die sich gern gegenüber allen anderen als "Saubermann-Partei" gab, sicher eine gute Übung zur Kooperation mit anderen.
Aussenminister bleibt Urmas Paet (Reformpartei), obwohl sich laut Pressemeldungen der jetzige Spitzenkandidat der ProPatria/ResPublika - und ebenfalls ehemalige Ministerpräsident Marts Laar - sehr für dieses Amt interessiert hatte. Laar bleibt aber zunächst Parteichef ohne Ministeramt.

Ein anderer bekannter Kopf, der ehemalige Rektor der Universität Tartu Jaak Aaviksoo, wird nun Verteidigungsminister. Eine vielleicht ungewöhnliche Karriere: ob die neue Regierung damit vielleicht sagen will, die estnische Armee braucht eine bessere Allgemeinbildung? Jedenfalls wird der sprachgewandte Minister (Englisch, Russisch, Deutsch, Französisch) jetzt wohl fachlich ganz andere Kontakte pflegen müssen.

Bevorzugte Köpfe: Bürgermeister und ehemalige Minister
Auch Justizminister Rein Lang kommt von der
Uni Tartu, blieb aber in seinem Fach und bekleidete auch schon in der bisherigen Regierung dasselbe Amt. Der neue Minister für Bildung und Wissenschaft, Tõnis Lukas, ist ein Rückkehrer in dieses Amt (das er 1999 - 2002 schon einmal inne hatte) und stammt aus der Isamaaliit (Vaterlandspartei) - ebenso wie sein neuer Kollege Helir-Valdor Seeder aus Viljandi.
Ein frisches Gesicht der Reformpartei ist die bisheri
ge Bürgermeisterin von Tartu, Laine Jänes, jetzt neu im Amt der Kulturministerin. Sie war schon Konzerthallendirektorin, Leiterin der Musikakademie, Musiklehrerin und Dirigentin. Sie gewann auf den Wahlzetteln mit die höchste persönliche Zustimmung überhaupt - andererseits ist ihr Nachname (jänes = estnisch "Hase") auch Gegenstand einiger Witzchen (wohl das Schicksel vieler Frauen in der Poltik - Abbildung aus: "Itching for Eestimaa").
Eine weitere Frau im neuen Regierungsteam ist Sozialministerin Maret Maripuu, die bisher
unter anderen stellvertretende Präsidentin des Riigikogu und auch schon Stadtdirektorin in Tallinn war.

Auch zwei weitere Miniser waren bisherige Bürgermeister: Umweltminister, Jaanus Tamkivi (in Kuresaare, Estlands größter Insel Saaremaa). und Vallo Reimaa (
Jõhvi).

Bleibt noch, die drei Sozialdemokraten unter den Ministern zu erwähnen. Finanzminister Ivari Padar, im Berufsleben früher mal Zimmermann und Transportarbeiter, hat sowohl regionalpolitische wie auch Ministererfahrung vorzuweisen. Er war schon Bürgermeister in Võru, arbeitete schon vor 10 Jahren im Finanzministerium, und war dann 1999 - 2002 Landwirtschaftsminister. Die Einbeziehung von Innenminister Jüri Pihl als ehemaligen Chef der estnischen Sicherheitspolizei ins neue Kabinett halten manche politische Beobachter (so Osteuropa-Blogger Vilhelm Konnander) als Überraschung, und gleichzeitig als Zeichen einer erstarkenden Sozialdemokratie in Estland. Unternehmerin Urve Palo (Tartu) wird für die Sozialdemokraten das Ministerium für Bevölkerung und ethnische Fragen leiten.

Weitere Info:
Regierungsprogramm 2007-2011 (engl. Fassung)
Übersicht zur neuen Regierung Estlands
Liste der in Estland registrierten Parteien
Webseite Tõnis Lukas
Lebenslauf Laine Jänes
Webseite des Ministerpräsidenten
Wahlanalyse der Robert-Schumann-Stiftung (engl.)
Analyse bei "Global Insight" (engl.)

Mittwoch, April 04, 2007

Tallinn im Umbruch - Sakala Center


Sakala Center
Originally uploaded by Flasher T.
Wieviel Architektur der Sovietzeit wird überdauern? Die große Nationalbibliothek bestimmt. Anderes weicht der Modernisierung. Nicht weit vom Zentrum mit der Altstadt ist ein Hochhausviertel entstanden. Eher ungewöhnlich für Ostseegroßstädte. Die Frage ist auch, wieviel "soviet" steckt überhaupt in den Großgebäuden seit dem 2. Weltkrieg. Wer das Foto anklickt wird weitergeleitet. Als Kommentar ist ein Hochhaus aus Helsinki der nur 80km entferneten finnischen Hauptstadt abgebildet. Die Ähnlichkeit ist deutlich, wurde aber schon vor 1918 errichtet.
Das Sakala Center mit dem stehengelassenen Turm in den Plänen für den zukünftigen Neubau:
www.sakala.ee
Der Originalpost von Flasher_T.

Dienstag, April 03, 2007

1934 Ein Wendejahr - 1.Teil

Ab und zu wird im Internet darauf hingewiesen, dass Estland vor 1939 ein autoritärer Staat gewesen sei. Manche zählen die Republik in den 30ern sogar zu den faschistisch regierten. Vom Staatsoberhaupt gesteuert, dem langjährigen Präsidenten Konstantin Päts. War es wirklich so? Was geschah 1934?
In den Erinnerungen der Deutschbalten verlieren die Vorgänge auf der politischen Bühne häufig die Brisanz, die ehemalige Heimat verklärt zu einer Idylle. Vielleicht war es auch ein wenig so. In Deutschland regierten die Nazis, in Italien die Faschisten, in Spanien wird kurze Zeit später Franco zum mächtigsten Mann. Aber auch Esten sehen diese Zeit Anfang der 30er ähnlich, wie ihre deutschen Landsleute:
Anton Kivirähk - Die Memoiren des Anton Orav
In diesen seligen Zeiten also war Konstantin Päts Präsident. Ein rechter Volkstribun, dessen Haus jederzeit einem jedem Esten offenstand. Auch ich war dort häufig zu Gast. Der Präsident war immer von Menschen umgeben. Man unterhielt sich, spielte Corona und Billard. Frisch Verliebte trafen sich heimlich bei Päts, frisch Verheiratete verlebten bei Päts ihre Flitterwochen. Für jedermann hatte der Präsident ein gutes Wort übrig, einen freundlichen Blick oder einen saftigen Schmorbraten. Er ging mit einem kleinen Lappen unter sein Volk, wischte hier, putzte da, ordnete dort. Bei Päts herrschte immer peinliche Sauberkeit.
Manchmal kam auch General Laidoner hereingeritten. Dann setzten sich der Präsident und sein General in eine Ecke und hielten Rat, wie man der Vapsen Herr werden könnte. Man scheute sich auch nicht, die Meinung der Gäste anzuhören. Die Beratungen verliefen sehr stürmisch und endeten schließlich immer damit, daß der Führer der Vapsen, Artur Sirk, kopfüber aus dem Fenster gestürzt wurde.

Schwer zu sagen, wieviel Fiktion in dieser Darstellung steckt, wahrscheinlich nicht viel. Es gab eine Opposition in Estland vor dem Entscheidungsjahr und einer ihrer mächtigsten Vertreter neben Sirk ist Andres Larka:

Nach dem Unabhängigkeitskrieg, der 1920 mit dem Frieden mit der Sowjetunion endete, war er Kriegsminister, wurde später krank, eine Unterbrechung.
Ab 1928 war Andres Larka in der Politik aktiv. Er schloss sich dem 1926 gegründeten Zentralverband der estnischen Freiheitskämpfer (Eesti Vabadussõjalaste Keskliit) an, dessen Vorsitzender er von 1930 bis zur Auflösung 1933 war. 1934 wurde er Vorsitzender der Nachfolgeorganisation, des Verbands der estnischen Freiheitskämpfer (Eesti Vabadussõjalaste Liit). Die Anhänger wurden im Volksmund Vapsid genannt und gewannen bald entscheidenden Einfluss auf die estnische Politik.

Andres Larka in Wikipedia.
Sirk dagegen hat keine Militärkarriere in der Republik gemacht sondern war Rechtsanwalt.
Was waren die Gründe einer erstarkenden Opposition? Bei Georg von Rauch: Geschichte der baltischen Staaten gibt es den Hinweis auf eine parlamentarische Krise:
In Estland betrug die Lebensdauer einer Regierung zwischen 1919 und 1933 nur acht Monate und 20 Tage im Durchschnitt.

Berufsgruppen und Wirtschaftslobbyisten wurden immer mächtiger und begannen das Parteiensystem auszuhebeln. Die Abgeordneten fingen an die Parteien zu wechseln. In diese Phase fiel der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise.